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Polarisierung der DebattenkulturMiteinander statt gegeneinander – wer will eigentlich angeschrien werden?

Lesezeit 8 Minuten
Setzen ein Zeichen für Einigkeit in Paris: Die Zweitplatzierten Kim Kum Yong/Ri Jong Sik aus Nordkorea und die Dritten Shin Yubin/Lim Jonghoon aus Südkorea posieren für die Ewigkeit.

Setzen ein Zeichen für Einigkeit in Paris: Die Zweitplatzierten Kim Kum Yong/Ri Jong Sik aus Nordkorea und die Dritten Shin Yubin/Lim Jonghoon aus Südkorea posieren für die Ewigkeit.

Polarisierung und Aggression prägt die politische und gesellschaftliche Debatte. Wie es anders gehen könnte – ein Plädoyer für mehr Versöhnlichkeit.

Es gibt diese Momente, die aufatmen lassen. Die ein kleines Hoffnungsfenster öffnen in einer verfahrenen Situation, winzig, nur einen Fußbreit oder sogar weniger und vielleicht auch trügerisch. Vielleicht aber eben auch nicht.

Ende Juli gab es so einen Moment in Paris. Die Olympia-Sieger im gemischten Tischtennis-Doppel hatten gerade ihre Medaillen bekommen, da zog einer der Bronzegewinner sein Handy aus der Tasche für ein Selfie mit seinen strahlenden siegreichen Mitsportlern.

Miteinander statt gegeneinander: Olympische Spiele zeigen, wie es geht

Und weil Bronze an Südkorea und Silber an Nordkorea ging, zwei seit Jahrzehnten durch eine streng bewachte Grenze und verbissene ideologische Kämpfe getrennte Länder, entstanden historische Fotos von Gemeinsamkeit, eines geteilten Moments des Glücks und der Fröhlichkeit von ein paar Mitzwanzigern. Gut, der nordkoreanische Spieler Ri Jong Sik blicke ein wenig ernst, seine Mitspielerin Kim Kum Yong aber hatte ein Lächeln im Gesicht.

Eigentlich könnte es doch gehen miteinander statt gegeneinander, ausgerechnet vom hochkompetitiven Bereich des Sports ging diese Botschaft aus. So war es auch bei anderen Wettbewerben dieser Olympischen Sommerspiele. Es war eine ganz eigene Welt.

In der anderen Welt bombardiert Russland die Ukraine, hat die Hamas seit Monaten Dutzende Israelis entführt, bombardiert Israel Häuser in Gaza. In der anderen Welt erstach ein abgelehnter Asylbewerber in Solingen drei Menschen auf einem Stadtfest, werden Wahlkämpfer geschlagen und Redner niedergeschrieen, ziehen sich Politiker und Politikerinnen zurück, weil sie genug haben von Drohungen, wird in Bautzen ein Christopher Street Day, auf dem für die Rechte von Lesben, Schwulen und anderen queeren Menschen demonstriert wird, wegen der Bedrohung durch Rechtsexterme vorzeitig beendet.

In den USA jubeln Menschen einem Präsidentschaftskandidaten zu, der die Verachtung für und das Verächtlichmachen von anderen in den Mittelpunkt seiner Auftritte rückt. Bei Demonstrationen von Landwirten werden hierzulande Galgen für Politiker mitgeführt.

Die Liste lässt sich fortsetzen. Allem ist, in unterschiedlichen Abstufungen, eines gemein: Polarisierung, Aggression, Unversöhnlichkeit. Das gilt auf eine Weise auch für die Koalition in Berlin, die zwar immer wieder Kompromisse findet, dazwischen aber so erbittert streitet, dass selbst der sonst zurückhaltende Kanzler inzwischen mehr Benehmen anmahnt.

Und in den sogenannten sozialen Netzwerken wird Hass ganz unsozial kübelweise ausgekippt. Gerade hat der Tennisprofi Alexander Zverev berichtet, wie oft ihm – oder auch seiner Mutter – digital der Tod gewünscht wird. Ähnliches erfahren Politikerinnen und Politiker und auch Privatpersonen.

Rund ein Drittel der Internetnutzer und -nutzerinnen seien schon mal persönlich mit digitaler Gewalt wie Bedrohungen und Beschimpfungen konfrontiert gewesen, berichtete die Hilfsorgansation HateAid unter Bezug auf eine Umfrage 2021. Bei den 18- bis 30-Jährigen, die Altersgruppe, die im Internet besonders aktiv ist, war es sogar jeder Zweite. Die Soziologin Céline Teney konstatierte in einem Tagesspiegel-Interview im Januar: „Die Vernünftigen und Moderaten werden in den sozialen Medien zum Schweigen gebracht“.

Dass es Meinungsverschiedenheiten, unterschiedliche Positionen und Sichtweisen gibt, ist klar. Einen rechtlichen Korridor dafür legen Gesetze und internationale Vereinbarungen fest. Aber angeschrien, beschimpft, bedroht oder physisch attackiert zu werden – wer will das eigentlich? Und warum wird überhaupt geschrien, beschimpft, geschlagen?

Es kommt da wohl einiges zusammen, in immer unterschiedlichen Variationen und Kombinationen: Wut, Frust, Enttäuschung, Ängste. Wegen eigener Erfahrungen, wegen politischer Entscheidungen, wegen globaler Entwicklungen von Krieg bis Klimawandel. Bei manch einem oder einer mag Langeweile und schlechte Laune Aggressionen verstärken. Und es gibt auch die Anstachler, für die der Hass eine Strategie ist.

Wie kommt man da dazwischen? Wie lässt sich Eskalation verhindern und Polarisierung zurückdrehen? Wie wird der Umgang miteinander versöhnlicher?

An der Universität Bonn widmet sich gleich ein ganzes Institut dieser Fragestellung. 50 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, auch von anderen Hochschulen, haben sich im „Zentrum zur Versöhnungsforschung“ zusammengeschlossen. Dessen Sprecher, der Soziologe Hans-Georg Soeffner, sagt im RND-Gespräch: „Nicht nur unsere Gesellschaft bewegt sich zwischen den Polen Versöhnung und Unversöhnlichkeit. Unversöhnlichkeit ist dabei häufiger zu beobachten.“

Soeffner, der für ein Forschungsprojekt mit Überlebenden des Holocaust gesprochen hat, nennt mehrere Voraussetzungen für Versöhnlichkeit und Versöhnung. „Grundlegend ist, dass beide Parteien bereit sind, sich auf den Standpunkt des jeweils anderen einzulassen oder sich zumindest bemühen, den Standpunkt des anderen zu verstehen“, sagt er. Das könne schwer sein, räumt er ein. Aber: „Es würde zumindest helfen, die Affekte besser zu kontrollieren.“ Eines betont Soeffner dabei vorsorglich noch: „Den gegnerischen Standpunkt zu verstehen, bedeutet nicht, ihn zu teilen.“

Die Bonner Geschichtsprofessorin Christine Krüger ergänzt: „Versöhnung lässt sich nicht aufzwingen. Sie muss aus freiem Willen kommen.“ Es brauche die Bereitschaft, aufeinander zuzugehen. Ein wichtiges Hilfsmittel: Gemeinsamkeiten der Streitparteien. „Als erster Schritt muss man ins Gespräch kommen, um die Gemeinsamkeiten betonen zu können“, sagt Krüger im RND-Gespräch. Auch soziale Unterschiede könnten dabei eine Hürde sein. „Da zusammenzukommen ist nicht einfach. Aber man sollte es auf jeden Fall versuchen.“

Die vor zwei Jahren verstorbene Mevlüde Genç, die bei einem Brandanschlag Rechtsextremer auf ihr Wohnhaus in Solingen 1993 zwei Töchter, eine Nichte und zwei Enkelinnen verlor, betonte danach neben ihrem Schmerz ihre Versöhungsbereitschaft. „Wir sind alle Brüder. Das lässt sich auch durch Verbrennen und Kaputtmachen nicht verhindern“, sagte sie im Gerichtsprozess in Richtung der Täter. Seit 2018 ist ein Preis für Toleranz und Versöhnung nach ihr benannt.

Und auch zwischen Staaten kann es klappen mit der Aussöhnung: Deutschland und Frankreich galten über Jahrhunderte nicht einfach als benachbarte Länder, sondern als „Erbfeinde“. Nach dem 2. Weltkrieg änderte sich das. Präsident Charles de Gaulle und Bundeskanzler Konrad Adenauer unterzeichneten 1963 den Élysée-Vertrag – heute gelten beide Länder als die zentralen und treibenden Kräfte in der EU. Und die ist ihrerseits ein Gemeinschaftsprojekt, in der die Überwindung nationaler Egoismen und der Kompromiss im Vordergrund steht oder stehen sollte, so schwer das auch manchmal ist.

Politische Versöhnung sei „der Kitt, der eine Demokratie zusammen- und funktionsfähig hält“, so beschreibt es der SPD-Außenpolitiker Michael Roth. Politikerinnen und Politiker müssten auch nach harten Kontroversen wieder aufeinander zugehen können. „Dafür muss man sich weder mögen noch nahe stehen. Es braucht nur ein hohes Maß an politischer Klugheit, Rationalität und Härte.“

Wie es nicht gelingen kann, dafür gibt es genügend Beispiele: Die CDU-Spendenaffäre hatte zur Folge, dass Altbundeskanzler Helmut Kohl und dessen jahrzehntelanger Vertrauter und spätere Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble über 15 Jahre – bis zu Kohls Tod – nicht mehr miteinander sprachen. CDU-Chef Friedrich Merz, der sich vor über 20 Jahren von Angela Merkel an die Seite gedrängt fühlte, wirkt nicht so, als hätte er seinen Groll überwunden. Die SPD-Politiker Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine legten ihre Konkurrenz nur für ein paar Monate zur Seite, bis die SPD 1998 die Wahl gewonnen hatte und Schröder Kanzler war.

Anfrage bei einem, der ganz gerne mal sehr zuspitzt: Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki, stellvertretender Parteichef der FDP, hat Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) schon mal mit Russlands Präsident Wladimir Putin verglichen – und sich danach dafür entschuldigt. Zuletzt hat er den Rücktritt von Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) gefordert – wegen dessen Umgang mit der Corona-Pandemie – und den von Innenministerin Nancy Faeser (SPD) zumindest ins Gespräch gebracht. Unter Koalitionspartnern ist das ein ungewöhnliches Vorgehen.

Welche Rolle hat Versöhnung und Versöhnlichkeit in der Politik, Herr Kubicki? Politik habe „ganz klar die Aufgabe, mit ihrem Tun in die Gesellschaft versöhnend zu wirken“, antwortet er dem RND. Wenn über Jahre eine Aufarbeitung der Corona-Politik verhindert werde, werde „der Gesellschaft die Möglichkeit genommen, dieses große Spaltungsthema für sich als bereinigt zu erklären.“ Von seinem Standpunkt aus ist Kubicki also durchaus im Namen der Versöhnlichkeit unterwegs.

Seine Amtskollegin im Bundestag, Katrin Göring-Eckardt (Grüne), sieht es ein wenig anders. Die Versöhnlichkeit drohe verloren zu gehen, findet sie. „In der Aufmerksamkeitsökonomie mag die ewige Zuspitzung und Diffamierung erfolgreich sein, für den Zusammenhalt ist sie schädlich“, sagt sie dem RND. In den politischen Debatten gehe es derzeit mehr ums Rechthaben als ums Zuhören.

Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) fordert mehr Gelassenheit im politischen Diskurs. „Das bedeutet auch, dass man nicht jeden Vorschlag des Gegenübers binnen Stundenfrist per Tweet in Bausch und Bogen ablehnt“, sagt er dem RND. Wenn Demokraten nicht gesprächs- und kooperationsbereit seien, stärke dies nur die politischen Extreme.

Einer, der früher auch oft verbal hingelangt hat, ist Erwin Huber. Der heute 78-Jährige war bayerischer Finanzminister und kurz mal CSU-Chef, davor aber sechs Jahre CSU-Generalsekretär, mit der Jobbeschreibung „Wadlbeißer“. Manches von dem, was er damals gesagt habe, tue ihm mittlerweile leid, sagt er dem RND.

Und weil der Wettbewerb um Wählerstimmen härter geworden sei, habe sich die „Neigung zu persönlicher Herabsetzung und grober Beleidigung“ in der Politik vergrößert. „Wir brauchen einen neuen Umgangston, ein verträgliches Miteinander – kurz mehr inneren Frieden“, fordert Huber. Der aktuelle CSU-Generalsekretär, selber Nachname, Vorname Martin, kommentiert die Ampelpolitik nahezu täglich in dieser Tonlage: Offenbarungseid, Realitätsverlust, Skandal, Sargnagel, Debakel.

Der Soziologe Soeffner hat eine Empfehlung. Geduld müsse man haben, weil Zusammenfinden „meist nicht von jetzt auf gleich“ gehe. Mehrere Phasen gebe es da. Und es sei eine gute Idee, dabei auch bei aller Schwere von Themen und Konflikten auch auf Humor und Fröhlichkeit zu setzen. „Lachen entspannt“, sagt Soeffner. Die süd- und nordkoreanischen Tischtennisspieler und -spielerinnen haben das in Paris schon mal geübt.