Seit dem Sturz des Diktators Assad wird diskutiert, ob geflüchtete Syrer wieder in ihre Heimat zurückkehren sollen. Hier ist die Geschichte von zwei, die bleiben wollen. Für Deutschland.
„Ich gehöre doch dazu“Warum ein Pfleger und eine Ärztin aus Syrien in Leverkusen und Köln bleiben wollen

Pfleger Wissam Abu Alneaj ist vor zehn Jahren aus Syrien geflohen. Er sagt: „Wenn jetzt viele Migranten – egal aus welchem Land sie kommen – zurückgehen, dann wird auch Deutschland Verluste haben. Wer soll die alten und kranken Menschen pflegen? Wer soll in die Rentenkassen einzahlen? Dieses Land muss doch weiterkommen!“ Nadia Abazid kam als Stipendiatin vor zehn Jahren nach Köln. Heute arbeitet sie hier als Pathologin, ihr Sohn kennt nur Köln als Heimat. Zurückgehen will sie nicht.
Copyright: Lehnen/Abazid
Er ist 15 Jahre alt, als er sich in der Dunkelheit auf den kalten Wellen des Mittelmeers wiederfindet. Alleine ohne Eltern und Geschwister, in einem Boot mit anderen Flüchtlingen, darunter auch einige ältere Frauen. Seine Mutter und sein Vater wollten ihn erst nicht gehen lassen aus Damaskus. Aber Wissam Abu Alneaj hat eine Kraft in sich, die alle Hürden niederwalzt und in diesem Frühjahr 2015 bricht sie sich zum ersten Mal Bahn. „Der Krieg hat unser Land, unsere Wohnung und all meine Träume zerstört. Das konnte ich nicht ertragen. Ich wusste: Ich muss weiter“, sagt Alneaj.
Er sitzt in der Wacht am Rhein in Leverkusen, draußen kriecht kalter Hochnebel über den Fluss, drinnen hat er sich einen Latte Macchiato bestellt, ein feines Lächeln leuchtet aus seinen dunklen Augen. Kaffeetrinken. Eine Eigenheit, die er von seinen neuen Landsleuten übernommen hat. Abu Alneaj liebt den fast schon zeremoniellen Cafébesuch, der in seinen Augen den deutschen, strebsamen Alltag mit einem Netz aus eingeplantem Müßiggang hinterlegt. Eine gewisse Feierlichkeit begleite das Kaffeegedeck. Abu Alneaj liebt außerdem Käsekuchen, das deutscheste Gebäck, das er sich vorstellen kann.
Wissam Abu Alneaj (25) kommt aus Syrien, dort wurde er als palästinensischer Flüchtling geboren. Heute arbeitet er als Pfleger am Klinikum Leverkusen, wo er auch die Ausbildung absolviert hat, seit gut zwei Jahren hat er einen deutschen Pass. „Einen der mächtigsten Pässe der Welt“, schiebt er hinterher. Abu Alneaj ist einer von denjenigen 80.000 Syrern, die laut Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) in Engpassberufen in Deutschland arbeiten. In der Pflege füllen gut 2000 Menschen die Lücken an deutschen Klinikbetten, in der Ärzteschaft sind es mehr als 6000. Allein im Rheinland sind nach Auskunft der Ärztekammer Nordrhein derzeit 624 Mediziner aus Syrien tätig. Sie bilden damit nach den Griechen die zweitgrößte Gruppe der ausländischen Ärzte.
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Deutschland ist meine zweite Heimat geworden.
Nadia Abazid ist eine von ihnen. Die Pathologin kam im Oktober 2015 als 30-Jährige mit einem Stipendium nach Deutschland. Ein Jahr später hat sie die deutsche Approbation erlangt, nach weiteren drei Jahren die Facharztprüfung bestanden. Heute engagiert sie sich neben ihrem Beruf in einem Labor in Köln in der Syrischen Gesellschaft für Ärzte und Apotheker in Deutschland. Manchmal vermisst sie die kleine syrische Mittelmeerstadt in der Nähe von Latakia, wo sie aufgewachsen ist. Manchmal vermisst sie den Trubel in Damaskus, wo sie studiert hat. Sie hat aber auch einen Sohn, der in dieser Stadt geboren wurde. Sie spricht Deutsch nahezu fehlerfrei. Sie isst Kartoffeln und Nudeln. Sie plant ihre Termine – ganz deutsch wie sie sagt – Wochen und Monate im Voraus statt sich wie früher in Syrien spontan für den Nachmittag zu verabreden. „Ich habe schon Sportkurse mit meinem Sohn besucht, als der noch ein Baby war, solche Möglichkeiten hat man in Syrien eher selten. Ich selbst gehe zum Aquafitness. Ich finde diese neuen Gewohnheiten total gut.“ Und sie sagt: „Deutschland ist meine zweite Heimat geworden.“

„Wir haben hier unsere Jobs, wir haben eine Wohnung finanziert, unser Kind kennt keine andere Heimat. Ich will nicht noch einmal neu anfangen“, sagt Die Ärztin Nadia Abazid.
Copyright: Abazid
Käsekuchen, Terminkalender, Arbeitsplatz. Viele Syrerinnen und Syrer, die vor zehn Jahren nach Deutschland und ins Rheinland kamen, sind gut integriert. Am Arbeitsmarkt nehmen sie so gut teil, wie kaum eine andere Gruppe von einst Schutzsuchenden. Ein Kurzbericht des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung zeigte bereits 2017, dass sie seltener als andere Geflüchtete Grundsicherung beziehen. Unter den syrischen Geflüchteten, die 2015 nach Deutschland kamen, waren sieben Jahre später knapp zwei Drittel erwerbstätig. Seit der syrische Machthaber Baschar al-Assad Anfang Dezember gestürzt wurde, läuft dennoch die Debatte, ob sie nicht in ihr Heimatland zurückkehren müssen. Unionsfraktionsvize Jens Spahn schlug beispielsweise bereits Tage nach dem Diktator-Sturz vor, Flugzeuge für Rückkehrwillige zu chartern und ihnen ein Startgeld von 1000 Euro zu zahlen. Auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) will Schutzgewährungen für Syrer überprüfen und aufheben, wenn Menschen diesen Schutz in Deutschland nicht mehr brauchen.
Für Abazid und Abu Alneaj gilt das alles nicht. Beide haben eine Arbeit sowie die deutsche Staatsbürgerschaft. Dennoch lässt sie die Diskussion nicht unbeteiligt. Das Bundesfluchtministerium hat angekündigt, offene Asylanträge von Syrern bis auf Weiteres zurückzustellen. Knapp 50.000 warten derzeit auf das Ergebnis ihres Antrags. Auch jemand wie Abazid macht sich Sorgen. „Mich enttäuscht die veränderte Stimmung in Deutschland“, sagt sie. „Viele Syrer, die ich kenne, sind hier gut integriert. Sie arbeiten im Gesundheitssystem, aber auch als Handwerker oder in der Gastronomie. Warum können nicht alle multikulturell in Frieden miteinander leben?“
Der Messerangriff in Aschaffenburg, die Attacke in München – die Stimmung hat sich gegen Flüchtlinge gewendet
Wissam Abu Alneaj sorgt sich auch um seine Eltern. Seine Mutter ist Apothekerin, da ihre Zeugnisse aber zu alt seien, habe sie diese in Deutschland nicht anerkennen lassen können. Dem Vater gehe es gesundheitlich schlecht. Die Schwester versuche gerade, ihre Zeugnisse als Apothekerin anerkennen zu lassen. Auch der Antrag des jüngeren Bruders auf die deutsche Staatsbürgerschaft laufe noch. „Es wird ungemütlicher“, sagt Abu Alneaj. Denn da ist ja auch noch die allgemeine politische Stimmung, die sich besonders seit dem Messerangriff in Aschaffenburg, bei dem ein Kleinkind und ein Mann starben, sowie dem Anschlag in München mit zwei Toten, gegen Flüchtlinge und Migranten wendet.
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Wissam Abu Alneay ist Pfleger im Klinikum Leverkusen.
Copyright: Dominik Scholz
Laut einer ECFR-Studie hält fast jede dritte Person in Deutschland Migration für das größte Problem unserer Zeit. Die AfD steht bei Umfragen zur Bundestagswahl bei rund zwanzig Prozent, Friedrich Merz von der Union sah seinen Anspruch aufs Kanzleramt mit dem Versuch untermauert, mit den Rechtspopulisten ein Gesetz zum Migrationsstopp durch den Bundestag zu peitschen. „Ich hoffe, dass es nicht soweit kommt, dass alle sich hassen“, sagt Abu Alneaj und rückt nachdenklich seine Brille zurecht. Sorgen macht er sich aber auch um Deutschland. „Wenn jetzt viele Migranten – egal aus welchem Land sie kommen – zurückgehen, dann wird auch Deutschland Verluste haben. Wer soll die alten und kranken Menschen pflegen? Wer soll in die Rentenkassen einzahlen? Dieses Land muss doch weiterkommen!“
Auch eine Studie des IW warnt vor Versorgungsengpässen, gerade in Gesundheitsberufen. „Syrische Beschäftigte sind wichtig für den deutschen Arbeitsmarkt. Sie tragen in nennenswertem Umfang dazu bei, den Fachkräftemangel in Deutschland abzufedern“, sagt Ökonom und Studienautor Fabian Semsarha. In vielen Berufen, so prognostiziert er, dürfte es schwierig werden, die Stellen neu zu besetzen, wenn Zugewanderte das Land verließen. Sieht man sich die Beschäftigtenzahlen der vergangenen Jahre an, so war ein Aufbau der Arbeitskraft überhaupt nur durch Zuwanderung möglich. Die Zahl der Deutschen im erwerbstätigen Alter sinkt schon seit geraumer Zeit. Ohne Zuwanderung würde Deutschland immer unproduktiver und damit auch wirtschaftlich erfolgloser.
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Nadia Abazid bei ihrer Arbeit. „Überall gibt es böse Menschen. Auch in Syrien. Aber wenn ein Migrant etwas falsch macht, dann sprechen alle darüber. Wenn ein Deutscher eine Straftat begeht, steht das nicht so im Fokus.“
Copyright: Abazid
Deutschland ohne Zuwanderung: unproduktiver und wirtschaftlich erfolgloser
Nadia Abazid stört es, dass in der öffentlichen Wahrnehmung kriminelle Ausländer in den Vordergrund gerückt würden. „Überall gibt es böse Menschen. Auch in Syrien. Aber wenn ein Migrant etwas falsch macht, dann sprechen alle darüber. Wenn ein Deutscher eine Straftat begeht, steht das nicht so im Fokus.“ Viele Ärzte aus dem Bekanntenkreis trügen sich deshalb auch mit dem Gedanken, nach Syrien zurückzukehren. Für Abazid kommt das nicht in Frage. „Wir haben hier unsere Jobs, wir haben eine Wohnung finanziert, unser Kind kennt keine andere Heimat. Ich will nicht noch einmal neu anfangen.“ Auch Wissam Abu Alneaj kann sich eine Rückkehr nach Syrien nicht vorstellen. Ab April macht er eine Weiterbildung als Notfallpfleger. Am Sonntag wird er zum ersten Mal für den Deutschen Bundestag wählen gehen. Außerdem will er reisen und in Ruhe leben. „Ich war fast noch ein Kind, als ich geflohen bin. Ich habe mir hier alles aufgebaut, habe hart gearbeitet. Ich bin sehr stolz. Ich gehöre doch dazu.“