NRW-Regierungschef Hendrik Wüst lobt die Hilfsbereitschaft im Land, gibt für Weihnachten Tipps und hofft auf eine friedliche Räumung Lützeraths.
NRW-Ministerpräsident im Interview200.000 Geflüchtete aus der Ukraine – Wüst fordert Unterstützung
Ministerpräsident Hendrik Wüst hat von der Bundesregierung eine dauerhafte Unterstützung bei der Unterbringung von Flüchtlingen aus der Ukraine gefordert. „Es ist nicht gut, wenn Kommunen und Länder alle paar Monate mit dem Bund in Finanzverhandlungen zu dem Thema eintreten müssen“, sagte der CDU-Politiker dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. „Wir haben es hier mit einer dauerhaften Herausforderung zu tun. Deswegen brauchen wir auch eine dauerhafte, solide und verlässliche Finanzierung durch den Bund“, fügte Wüst hinzu.
Hendrik Wüst: „Barbarische Kriegsführung Putins“
Die Folgen des Ukraine-Kriegs seien in NRW deutlich spürbar. „Über 200.000 Menschen – viele Frauen und Kinder – aus der Ukraine sind zu uns gekommen, denen wir gerecht werden wollen und müssen“, sagte Wüst. Der Zuzug gehe im Winter nicht zurück. „Das liegt an der barbarischen Kriegsführung Putins. Russland greift ganz gezielt die zivile Infrastruktur an. Das Kalkül ist, dass Menschen, die ohne Fenster, Strom und Heizung sind, in großer Anzahl ihre Heimat verlassen“, so der Ministerpräsident.
In Köln sind derzeit rund 4000 Flüchtlinge aus der Ukraine untergebracht. Die Stadt hat eine Messehalle angemietet, die bis zu 800 Menschen Platz spenden soll. Die Versorgung der Flüchtlinge werde für die Kommunen jetzt zunehmend schwieriger, sagte Wüst: „Die Kinder müssen ja nicht nur untergebracht, sondern auch in der Kita betreut und in der Schule unterrichtet werden.“
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Der Ministerpräsident lobte die Solidarität mit den Flüchtlingen aus den Kriegsgebieten: „Die Menschen in Nordrhein-Westfalen haben ein großes Herz und sind hilfsbereit. Dafür bin ich sehr dankbar.“ Das Land NRW habe vor der Krise 15.000 Plätze in Landeseinrichtungen vorgehalten.
„Derzeit stellen wir bereits 27.000 Plätze zur Verfügung, und wir gehen in einem nächsten Schritt bis März nächsten Jahres zunächst auf 34.000 Plätze. Perspektivisch wollen wir die Kapazitäten noch weiter ausbauen, um die Kommunen bei der Unterbringung von Flüchtlingen zu entlasten“, sagte Wüst. „Klar ist natürlich, dass gerade Frauen und Kinder am besten in Wohnungen leben sollten“, fügte der Ministerpräsident hinzu.
Wüst appellierte an die Bürger, an Weihnachten auch an einsame Mitmenschen zu denken. Einsamkeit habe viele Facetten und gerade jetzt an Weihnachten werde das Gefühl häufig noch verstärkt: „Wir können alle mehr darauf achten, wie es Nachbarn und Bekannten geht und füreinander da sein.“ Kleine Gesten könnten Großes bewirken: „Eine Karte mit weihnachtlichen Grüßen ist schnell geschrieben und führt womöglich dazu, dass sich jemand nicht mehr ganz so alleine fühlt.“
Hier lesen Sie das vollständige Interview mit NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst im Wortlaut
Die Themen des Interviews:
- Ukraine-Krieg und Geflüchtete
- Einsamkeit und Weihnachten
- Energiepreise, Inflation und Unterstützungsprogramme
- Gas-Fracking, Kohleabbau und die Räumung Lützeraths
- CDU, CSU und eine mögliche Kanzlerkandidatur
Herr Ministerpräsident, 2022 war das Jahr der großen Krisen. Was war für Sie der einschneidendste Krisenmoment?
Hendrik Wüst: Das war der Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine am 24. Februar. Das Wort des Kanzlers von der „Zeitenwende“ ist zutreffend.
Auf NRW bezogen: Wie stark wird das Land durch die Folgen des Kriegs in der Ukraine und der Pandemie zurückgeworfen?
Die Folgen sind deutlich spürbar. Über 200.000 Menschen – viele Frauen und Kinder - aus der Ukraine sind zu uns gekommen, denen wir gerecht werden wollen und müssen. Die Menschen in Nordrhein-Westfalen haben ein großes Herz und sind hilfsbereit. Dafür bin ich sehr dankbar.
Wäre NRW weiter, wenn es den Dauerkrisenmodus nicht gäbe – und in welchen Bereichen?
Die Situation ist für alle Ressorts herausfordernd. Aber bei den wichtigen Projekten geht es gut voran. Wir arbeiten trotz der Krisen weiter ambitioniert an unseren Themen. So haben wir in diesem Jahr zwei wichtige Zukunftsprojekte auf den Weg gebracht. Wir unterstützen ThyssenKrupp beim Einstieg in die Produktion grünen Stahls mit der höchsten Einzelförderung der Landesgeschichte. Dafür wenden wir bis zu 700 Millionen Euro auf. Und wir geben allein im kommenden Jahr rund 100 Millionen Euro mehr für eine bessere Besoldung insbesondere von Grundschullehrern aus. Damit machen wir diesen wichtigen Beruf attraktiver, um die Lehrerversorgung zu verbessern. Viele Kinder haben durch die Pandemie Nachholbedarf beim Verstehen von Sprache, beim Schreiben und Lesen.
Für Ihre persönliche Karriere verlief das Jahr mit dem klaren Sieg bei der Landtagswahl sehr erfreulich. Wie passt der Begriff „Landesvater“ zu Ihnen?
Ob die Bezeichnung passt, müssen andere beurteilen. Ich bin ein junger Familienvater und Ministerpräsident, der sich darum kümmert, dass es dem Land gut geht, auch in schlechten Zeiten. Das ist meine Aufgabe, und die mache ich gerne. Ein Thema, das mich beschäftigt, ist, dass viele Menschen einsam sind, auch über die Festtage. Das sollte uns alle berühren, und jeder kann mit kleinen Gesten etwas dagegen tun. Das wäre mein Wunsch.
Was meinen Sie damit?
Kleine Gesten können Großes bewirken. Eine Karte mit weihnachtlichen Grüßen ist schnell geschrieben und führt womöglich dazu, dass sich jemand nicht mehr ganz so alleine fühlt. Oder man stellt ein paar Plätzchen vor die Tür des Nachbarn, wenn man mitbekommen hat, dass die Kinder wieder nicht kommen. Oder man greift mal zum Telefon, um sich bei der Tante zu melden, die man lange nicht mehr gehört hat. Einsamkeit hat viele Facetten und gerade jetzt an Weihnachten wird das Gefühl häufig noch verstärkt. Wir können alle mehr darauf achten, wie es Nachbarn und Bekannten geht und füreinander da sein.
Die CDU stand früher für eine solide Finanzpolitik. Jetzt gab es bei der Planung des NRW-Hilfspakets zwei Kehrtwenden innerhalb von vier Wochen. Ist auf die CDU in der Finanzpolitik kein Verlass mehr?
Eine seriöse Haushaltspolitik ist für uns absolut wichtig. Deswegen sind wir auch offen für Kritik und haben die Hinweise von Expertinnen und Experten ernst genommen. In einer so dynamischen Lage, in der alles unter so hohem zeitlichen Druck geschieht, müssen wir auch im laufenden Verfahren auf Veränderungen reagieren, nachjustieren und wo nötig es besser machen. Die Beschlüsse des Bundes zur Entlastung der Menschen sind richtig, aber sie treffen den Landeshaushalt mit voller Wucht. Nach den bisherigen Planungen müssen wir mit Steuermindereinnahmen von vier Milliarden Euro rechnen. Jedes Jahr.
Bei den Menschen entsteht der Eindruck, die CDU habe den finanzpolitischen Kompass verloren. Ärgern Sie sich über handwerkliche Fehler?
Der Kompass ist klar: die Unterstützung der Menschen in Zeiten der Krise. Es geht jetzt um Teilhabechancen unserer Kinder, um Hilfe für Wohnungslose und Bedürftige, um die anständige Unterbringung der Menschen aus der Ukraine und die Unterstützung unseres Mittelstandes energieintensiven, damit Arbeitsplätze sicher sind. Mit einem ersten Hilfspaket über 1,6 Milliarden Euro leisten wir akute Hilfe, indem wir Energiekosten abfedern, unsere kritische Infrastruktur stärken und gezielte Programm für soziale Einrichtungen auflegen. Wir schließen Gerechtigkeitslücken, die beim Entlastungspaket des Bundes offengeblieben sind.
Warum sind Sie in Ihrer Haushaltsrede nur am Rande auf die Kritik an den „Chaostagen“ in der Haushaltspolitik eingegangen?
Die Finanzen des Landes sind durch den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine, die daraus resultierende Energiekrise mit stark steigenden Energiekosten, durch die hohe Inflation und steigende Zinssätze und noch dazu durch die noch nicht vollständig überwundene Corona-Pandemie geprägt. Die Beteiligung am Entlastungspaket des Bundes kostet uns allein 2023 mehr als vier Milliarden Euro, dazu kommen unsere eigenen Hilfsprogramme. Und dennoch setzen wir auch 2023 klare Schwerpunkte auf Bildung, Klimaschutz, Innere Sicherheit, Digitalisierung, Verkehr und Infrastruktur. Darüber – über die Inhalte – gilt es zu sprechen.
Wie schwer wiegt der Imageschaden, der durch das Hin und Her entstanden ist?
Uns fällt kein Zacken aus der Krone, wenn wir auf Expertenhinweise hören. Unsere gemeinsame Verantwortung ist es, der Unsicherheit dieser Zeit Sicherheit entgegenzusetzen. Darum geht es.
Wer trägt letztendlich die Verantwortung für den Zickzack-Kurs?
Wenn sich äußere Rahmenbedingungen verändern, muss man darauf reagieren. Das haben wir getan.
Der Krieg hat dem Ausbau der erneuerbaren Energien einen Schub versetzt. Gleichzeitig sind wir länger als geplant auf fossile Energien angewiesen. Kann es beim Kohleausstieg 2030 bleiben?
Ja, das haben wir verabredet und dabei muss es bleiben. Aber es darf nie wieder Ausstiege ohne Einstiege geben. Deswegen wollen wir neue Wasserstoffkraftwerke zunächst mit Gas betreiben und den Ausbau der Erneuerbaren schneller vorantreiben. Zum Beispiel, indem wir Vorrangzonen für Windenergie ausweiten. Das hilft uns dabei, unabhängiger zu werden und den Bedarf auch der Wirtschaft nach sauberer Energie zu bedienen. Mercedes will zum Beispiel künftig nur noch Bleche aus klimaneutraler Produktion beziehen.
Brauchen wir in NRW zur Energiesicherung mehr Gas aus Belgien und den Niederlanden?
Ja, wir wollen, dass Pipelines zu den belgischen und niederländischen Häfen ausgebaut werden. Aber der Bund muss zustimmen, die Voraussetzungen zu schaffen und jetzt endlich aus den Hufen kommen. Alleine über Belgien können wir dauerhaft rund zehn Millionen Kubikmeter zusätzlich pro Jahr beziehen. Das macht unsere Gasversorgung deutlich sicherer.
Wird NRW auch Fracking-Gas beziehen?
Wir müssen uns bei Energielieferungen breit aufstellen. Wir sollten uns nie wieder abhängig von einer Quelle machen.
Sollte auch in NRW gefrackt werden?
Nein. Dicht besiedelte Gebiete wie Nordrhein-Westfalen sind für Fracking nicht geeignet. Dort, wo man in NRW theoretisch Gas gewinnen könnte, müssten wir für das Fracking das Grundwasser durchstoßen. Das ist für mich keine Option. Deswegen kommen wir am Import von Gas nicht vorbei.
Bei der NRW-Polizei laufen die Planungen für die Räumung von Lützerath. Welche Fehler, die beim Einsatz im Hambacher Wald begangen wurden, dürfen sich nicht wiederholen?
Der Einsatz unterscheidet sich grundsätzlich. Zum einen ist die Rechtslage vor Ort eindeutig geklärt. Zu anderen ist in der aktuellen Situation jedem klar, dass die Kohle unter Lützerath gebraucht wird, um die Aufrechterhaltung der Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Niemand hat die Entscheidung leichten Herzens getroffen, diese Kohle in Anspruch zu nehmen. Ich werbe sehr dafür, dass der Protest, der in der Demokratie immer möglich sein muss, sich friedlich vollzieht.
Kann man sich einen Polizeieinsatz vorstellen, der keine hässlichen Bilder produziert?
In Lützerath wohnt keiner der ursprünglichen Bewohner mehr. Die Menschen, die sich jetzt dort aufhalten, protestieren gegen die Nutzung der Kohle. Ich appelliere, den Protest an einem anderen Ort stattfinden zu lassen und das Dorf friedlich zu räumen. Eine konfliktfreie Lösung wäre der beste Umgang mit der Situation für alle Beteiligten. Im Idealfall müsste es überhaupt keinen Polizeieinsatz geben.
Durch den Krieg kommen viele Flüchtlinge nach NRW. Worauf und wie stellt sich Nordrhein-Westfalen in der Flüchtlingsfrage ein?
Wir müssen die Menschen anständig unterbringen und versorgen. Wir stellen gerade fest, dass der Zuzug im Winter nicht wie früher zurückgeht. Das liegt an der barbarischen Kriegsführung Putins. Russland greift ganz gezielt die zivile Infrastruktur an. Das Kalkül ist, dass Menschen, die ohne Fenster, Strom und Heizung sind, in großer Anzahl ihre Heimat verlassen. Die Versorgung der Flüchtlinge wird für unsere Kommunen zunehmend schwieriger. Die Kinder müssen ja nicht nur untergebracht, sondern auch in der Kita betreut und in der Schule unterrichtet werden.
Viele Kommunen mussten bei der Unterbringung wieder bei null anfangen. Wie kann man das in Zukunft vermeiden?
Die aktuelle Bundesregierung wie auch die vorherige hat daraufgesetzt, dass nach der sogenannten Flüchtlingskrise im Jahr 2015 irgendwann wieder deutlich weniger Menschen zu uns kommen. Das ist jetzt nicht der Fall. Es ist nicht gut, wenn Kommunen und Länder alle paar Monate mit dem Bund in Finanzverhandlungen zu dem Thema eintreten müssen. Wir haben es hier mit einer dauerhaften Herausforderung zu tun. Deswegen brauchen wir auch eine dauerhafte, solide und verlässliche Finanzierung durch den Bund.
Was unternimmt das Land?
Wir haben vor der Krise 15.000 Plätze in Landeseinrichtungen vorgehalten. Derzeit stellen wir bereits 27.000 Plätze zur Verfügung, und wir gehen in einem nächsten Schritt bis März nächsten Jahres zunächst auf 34.000 Plätze. Perspektivisch wollen wir die Kapazitäten noch weiter ausbauen, um die Kommunen bei der Unterbringung von Flüchtlingen zu entlasten. Klar ist natürlich, dass gerade Frauen und Kinder am besten in Wohnungen leben sollten.
Sie gehören jetzt zu den Hoffnungsträgern der CDU im Bund und werden bei der Entscheidung über die nächste Kanzlerkandidatur ein wichtiges Wort mitzureden haben. Hat Friedrich Merz in Ihren Augen den ersten Zugriff auf die Kanzlerkandidatur oder haben Sie selbst Ambitionen?
Für diese Frage interessiert sich derzeit niemand in der Partei. Es wird darauf ankommen, dass sich die Spannungen innerhalb der Union zwischen CDU und CSU nicht wiederholen. Ich bin mir sicher, dass es beim nächsten Mal ein gemeinsames Vorgehen geben wird.
Ihr Vorgänger Armin Laschet hat mit seiner Kanzlerkandidatur alles auf eine Karte gesetzt – und verloren. Ist das eine Warnung für Sie?
Für jeden in der Union ist die entscheidende Lehre, dass CDU und CSU zusammenbleiben müssen. Das war 2021 nicht der Fall.
Ist Schwarz-Grün eine dauerhafte Perspektive für NRW?
Wir haben jetzt erstmal ein Mandat für fünf Jahre. Aber wenn etwas gut läuft, warum sollte man das ändern? Ich habe hohen Respekt davor, wie die Grünen mit den aktuellen Krisen umgehen und manches tun, das Ihnen schwerfällt, um die Menschen gut durch die Zeit zu bringen. Wir haben eine gute Kultur, mit unterschiedlichen Positionen umzugehen und arbeiten in der Koalition gut und vertrauensvoll zusammen.
Im Kölner Erzbistum ist eine Situation des massiven Vertrauensverlustes entstanden. Ist diese für Sie noch tragbar?
Ich möchte nicht in einer Gesellschaft leben, in der Glaube und Kirche keine Rolle spielen. Dass so viele Menschen den Kirchen den Rücken kehren macht mir Sorgen.
In der Weihnachtsgeschichte sagt der Engel „Fürchtet Euch nicht!“. Wie passt diese Botschaft in unsere Zeit?
Meine Mutter hat immer gesagt: Bange machen gilt nicht. Trotz aller Krisen dürfen wir nicht vergessen, dass wir in einer Zeit großer Chancen leben. Wir können heute viele Probleme technologisch lösen – mit Methoden, die es früher nicht mal in Science-Fiction-Filmen gab. Das sollte uns Mut machen.
Haben Sie als Kind ans Christkind oder den Weihnachtsmann geglaubt?
Ich bin katholisch und komme aus dem Münsterland. Ich war als Kind ganz klar im „Team Christkind“. Ich habe allerdings zwei große Schwestern, die dazu beigetragen haben, dass der Glaube ans Christkind nicht sehr lang anhielt. Ich glaube, damit war es schon im Kindergarten vorbei.