Erst herrschte Euphorie, aber jetzt breitet sich Sorge um die Zukunft der erhaltenen Dörfer aus: Bringt sie Innovation oder Ausverkauf?
Zurück in die ZukunftFünf Braunkohle-Dörfer bleiben – wie geht es weiter?
Oliver Kanneberg möchte zurück. Vielleicht. Genau weiß er das noch gar nicht. Aber so richtig loskommen kann er nicht von diesem Haus, das voll ist von Erinnerungen. In dem er seine einzige Tochter aufwachsen sah, die inzwischen erwachsen ist. Den Sandkasten vor Augen, in dem sie immer spielte und der jetzt von Pflanzen überwuchert ist. Der Garten, in dem er mit Frau und Freunden im Sommer Grillfeste feierte. Das Haus, das jetzt seit fast fünf Jahren vor sich hingammelt, Kanneberg will es wieder zurück. „Hier habe ich die schönste Zeit meines Lebens verbracht.“
Es ist Montagnachmittag, die Sonne ist schon untergegangen. Kanneberg, 57 Jahre alt, technischer Angestellter, steht neben seinem ehemaligen Eigentum in Kuckum am Rande des Tagebaus Garzweiler II im Rheinischen Braunkohlerevier. Vier Zimmer, Küche, Diele, Bad, 130 Quadratmeter Wohnfläche, 470 Quadratmeter Grundstück. Immer wieder kommt er hierher, um nach dem Rechten zu sehen. Gekauft hatte er das Haus 1999, in der Hoffnung, dass der Ort nicht wie damals noch geplant 2026 im großen Tagebauloch verschwinden würde, dass Braunkohle nicht gebraucht würde. Die Hoffnung schwand, 2018 verkaufte er dann doch an den Essener Energiekonzern RWE und siedelte um nach Wegberg nahe der niederländischen Grenze. Mit ihm der 300 Jahre alte Olivenbaum aus dem Vorgarten.
Kanneberg hat lange dafür gestritten, dass RWE die Umpflanzung des Baums bezahlt. Insgesamt habe er drei Jahre mit dem Unternehmen verhandelt. Zäh sei es gewesen, erinnert er. Manchmal auch unverschämt.
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Eigentlich hätte Kanneberg nur noch ein paar Jahre länger an seine Vision glauben müssen. Inzwischen steht Kuckum mit vier anderen Dörfern auf jener Liste, die die Grünen im Oktober mit RWE ausgehandelt hat. Fünf Dörfer werden demnach nicht im großen Braunkohleloch verschwinden. Nur Lützerath muss weichen. Die Geschichte ist bekannt. Kanneberg will sein Haus nun von RWE zurückkaufen. Anfragen hat er schon rausgeschickt, eine aussagekräftige Antwort aber bislang nicht erhalten. „Wir können aus diesen Dörfern etwas Besonderes machen“, sagt Kanneberg. „Orte der Innovation.“
Die Rettung der Dörfer hatte bei den meisten der etwa 250 verbliebenen Bürgerinnen und Bürgern zwischendurch Euphorie entfacht. Es war gelungen, woran kaum jemand zu glauben wagte. Der Triumph gegen den Energiegiganten aus Essen. Der Sieg des David gegen Goliath. Doch das Hochgefühl ist der Sorge vor einer ungewissen Zukunft gewichen.
In Kuckum leben zurzeit Flüchtlinge und Flutopfer
Das Glück traf die Dörfer unvorbereitet. Wie sieht ein gutes Morgen aus für Orten, die über die Jahre zu Geisterdörfern geworden sind? 90 Prozent der Häuser stehen leer, Fenster und Türen vernagelt, Fassaden verschmiert, in manchen hat sich längst der Schimmel in die Wände gefressen. Keine Kultur mehr, keine Vereine, keine Schule, keine Kita, keine Gemeinde, keine Gemeinschaft. Menschenleere.
Nur in Kuckum ist das Leben ein kleines Stück zurückgekehrt. Zumindest vorübergehend. Etwa 200 ukrainische Geflüchtete und einige Opfer der Jahrhundertflut 2021 haben in den Häusern Unterschlupf gefunden. Ob und wie lange sie bleiben, ist ungewiss.
Seit den 1950er Jahren hat RWE im Rheinischen Revier Orte umgesiedelt, um im an die Braunkohle zu kommen. Etwa 43.000 Menschen verloren seither ihre Heimat im Namen der Energieversorgung der Bundesrepublik Deutschland. In Kuckum sind es nach Konzernangaben bislang 491, etwa 50 sind geblieben.
Die meisten wurden in neue Ortschaften umgesiedelt, die RWE am Reißbrett geplant hat, präzise parzelliert und mit einem Zusatz versehen. Sie heißen Kuckum (neu) oder Keyenberg (neu). Der materielle Tausch war weitestgehend gleichwertig und auskömmlich, wie es heißt. Die Auswirkungen auf die menschliche Psyche konnten nicht am Computer simuliert werden. Aus dem Nichts sollte Leben gedeihen, Kultur entstehen, Gemeinden wachsen, Menschen in neuer Erde ihre letzte Ruhe finden. Wie ein Experiment. Die alten Orte sollten verschwinden. Nun aber werden sie weiter bestehen. Und das ist auch ein Problem.
„Es sind nicht alle glücklich mit dieser Entscheidung“, sagt Margarete Kranz. „Die Situation ist für viele Menschen eine Belastung.“ Die 72-Jährige hat schon früher als Bürgermeisterin von Jüchen Umsiedlungen begleitet. Seit 2009 macht sie das hauptamtlich. Sie ist Umsiedlungsbeauftragte des Landes Nordrhein-Westfalen. Zu Kranz kommen die Menschen, bei denen das Verlassen der Heimat Probleme mit sich bringt. Manche, weil sie das Aktenordner dicke RWE-Regelwerk nicht verstehen. Weil sie schon alt und vielleicht krank sind und nicht wissen, ob eine Umsiedlung für sie überhaupt noch Sinn ergibt. Kranz erklärt die Bürokratie und tröstet über den Verlust der Heimat.
Gerade die Menschen an den neuen Orten würden gerne endlich abschließen, sagt Kranz. Manche Dörfer seien noch nicht fertig, Straßen vielfach noch Baustelle. Manche Menschen haben zwar ihr Grundstück reserviert, wagen aber den Umzug nicht. Andere waren mittendrin als sie plötzlich von der Nachricht der Rettung überrascht wurden. Für manche sei der Gedanke schwer zu ertragen, dass nun andere Familien in ihre alten Häuser einziehen könnten, sagt Kranz. Sie hatten fest mit dem Abriss gerechnet. Für den Seelenfrieden. Dass ehemalige Bewohner wie Oliver Kanneberg ihre Häuser zurückkaufen wollen, sei eher eine Ausnahme. Wahrscheinlich seien es letztlich nicht mehr als ein Dutzend.
RWE führt weiter Gespräche mit Menschen, die umsiedeln wollen
An RWE jedenfalls soll es wohl nicht scheitern. „Das bergbautreibende Unternehmen hat sich verpflichtet, die Immobilien zu angemessenen Konditionen zur Verfügung zu stellen und einen Rückkauf möglich zu machen“, schreibt das NRW-Wirtschaftsministerium auf Anfrage des „Kölner Stadt-Anzeiger“. RWE aber arbeitet auch noch in die andere Richtung. Der Konzern wolle Bewohnern bis zur Festlegung eines offiziellen Stopps auch weiterhin „eine Umsiedlung ermöglichen und sie entsprechend den geltenden Regeln entschädigen“. Gespräche würden nach wie vor geführt, manche stünden kurz vor dem Abschluss, schreibt ein Sprecher.
Doch ganz gleich, ob Neu- oder Altbürger, alle vereint die Frage: Wie soll es denn nun weitergehen auf den insgesamt 20 Quadratkilometern entlang des Tagebaus? Gerüchte gibt es so einige. Manche befürchten, ein großer Onlineversand könnte ein riesiges Logistikzentrum in die Landschaft zimmern. Andere sprechen von so genannten Demenzdörfern. Stephan Muckel, Bürgermeister der zuständigen Stadt Erkelenz, sagt: „Alles ist ergebnisoffen.“
Die Debatte um die Zukunft will Muckel am 2. Februar in der Stadthalle Erkelenz eröffnen. Auf der Bürgerversammlung sollen drei Modelle vorgestellt werden, die das Kölner Büro für nachhaltige Stadt- und Regionalentwicklung „must“ im Auftrag der Kommune erarbeitet hat. Es sind Visionen, in denen es um Nachhaltigkeit geht, Siedlungsentwicklung, erneuerbare Energien, innovative Landwirtschaft, Gestaltung von Naturraum und Naherholung, ÖPNV-Anbindungen, individuelle Mobilität.
Klimaneutralität und Beispielcharakter für ganz Europa
Am Ende jedenfalls soll die Klimaneutralität stehen und im Idealfall eine Region, an der sich ganz Europa ein Beispiel nehmen können soll. Die Eckpunkte sollen sich in einer Leitentscheidung wiederfinden, die die Landesregierung im Sommer 2023 festlegen will. Nach dem Protesttrubel der vergangenen Jahre, der Dörfer wie Lützerath zum weltweiten Symbol für den Klimaprotest gemacht hatte, sei es nun wichtig, die Transformation voranzutreiben. „Der Tagebau hat große Wunden geschlagen“, sagt Muckel. „Die Menschen hier haben einen schmerzhaften Prozess hinter sich. Sie wollen nicht weiter Spielball globaler Klimapolitik sein, sondern sich endlich wieder den eigenen Dörfern widmen.“
Der Gedanke, dass auch RWE bei der Revitalisierung der Dörfer eine Rolle spielen könnte, löst bei einigen Bewohnern Grausen aus. Doch ohne den Konzern wird es nicht gehen. Er besitzt rund 90 Prozent der Flächen und 500 Anwesen. Bürgermeister Muckel sagt: „RWE muss eine Rolle spielen, aber nicht die führende. Die liegt bei den Menschen vor Ort und der Politik.“ RWE will sich zu diesem Thema öffentlich nicht äußern.
Der Konzern muss auch nach dem Kohleausstieg 2030 einiges tun, um die Landschaft, in die er seine Löcher gegraben hat, einigermaßen wiederherzustellen. Aus den drei Tagebauen Inden, Hambach und Garzweiler II sollen Seen werden. Die zwei letztgenannten sollen über eine Pipeline mit Wasser aus dem Rhein befüllt werden. 40 Jahre lang.
Wird aus dem Landstrich ein begehrtes Spekulationsobjekt?
Doch wo Seen sind, an denen man sich niederlassen kann, sind Menschen mit Geld nicht weit. Marita Dresen aus Kuckum befürchtet, dass sich aus dem verschandelten Landstrich schon bald ein begehrtes Spekulationsobjekt für Immobilienhaie entwickeln könnte. „Wir möchten vor allem eine Alternative für junge Familien sein, die aus den Großstädten wegziehen wollen. Künftig muss der Mensch im Mittelpunkt stehen und nicht mehr der Profit.“
Die 56-Jährige hat mit einigen anderen verbliebenen Bewohnerinnen und Bewohnern die „Dorfgemeinschaft Kultur Energie“ gegründet. Auf ihrer Internetseite haben sie ihre Vision von der Zukunft der Dörfer entworfen. Verkehrsberuhigte Zonen, kostenlose E-Mobilität, Ausbau von Radwegen. Vor allem aber die Rückkehr der Kultur mit einem Café in der entwidmeten Kirche und einer Dauerausstellung, die über den Leidensweg der Menschen im Braunkohlegebiet erzählt. „Diese Geschichte darf nie in Vergessenheit geraten“, sagt Dresen.
Zu dieser Geschichte gehört auch, dass der Protest gegen die Braunkohle die Dorfgemeinschaft tief gespalten hat. Die einen stehen an der Seite der Klimaaktivisten, die hier bis heute gegen die Ausbeutung des fossilen Energieträgers mobilisieren. Die anderen wollen die Aktivisten so schnell wie möglich wieder loswerden. In der Erkelenzer Stadthalle wird Dresen am kommenden Donnerstag auf die andere Fraktion treffen.
Barbara Oberherr aus Keyenberg, die zuletzt vor einer feindlichen Übernahme der Region durch linksextremistische Revolutionäre gewarnt hat, hat mit einigen anderen Bewohnern einen eigenen Verein ins Leben gerufen: „Zukunftsdörfer“. Die Visionen der beiden Initiativen unterscheiden sich inhaltlich kaum voneinander. Oberherr betont, dass man energetische Zukunftsdörfer entwickeln möchte, mit Photovoltaik und Wärmethermie. In Keyenberg habe man den ersten Schritt schon gemacht, sagt sie. Der Ort sei seit August 2021 energieautark. „Damit haben wir bereits ein klares Zeichen für den Klimaschutz gesetzt.“
Bürgermeister Muckel hofft, dass es am kommenden Donnerstag nicht zu Konfrontationen der beiden Lager kommt. „Wir wollen, dass sich viele Ideen unabhängig von unterschiedlichen Meinungen entwickeln“, sagt er. „Wir wollen, dass die Menschen wieder zueinander finden.“