Russland innerhalb einer Woche die größten Geländegewinne in der Ukraine seit 2022 erzielt. Experten äußern große Sorge.
Lage an der Front prekärPutins Armee rückt bei Charkiw vor – „Russen machen gezielt Jagd auf Sanitäter“
Die ukrainische Armee muss angesichts der russischen Offensive in der Region Charkiw immer mehr Geländeverluste verkraften und sich aus Stellungen zurückziehen. Die Lage an der Front ist prekär. Schätzungen der Nachrichtenagentur AFP zufolge habe die Armee von Wladimir Putin innerhalb einer Woche in der Ukraine Geländegewinne von rund 278 Quadratkilometern erzielt. Der Großteil davon liegt im derzeit hart umkämpften Grenzgebiet bei der Millionenstadt Charkiw.
Die Berechnungen beziehen sich auf Daten des in den USA ansässigen Instituts für Kriegsstudien (ISW). Demnach handele es sich um die größten russischen Geländegewinne seit Dezember 2022. Russland hatte vor einer Woche eine Offensive in der Region Charkiw gestartet, seither vermelden russische Medien fast täglich die Einnahme neuer Dörfer. Am Mittwoch erklärte das Verteidigungsministerium in Moskau, die Streitkräfte seien tief in die feindlichen Verteidigungslinien vorgedrungen.
Russland rückt bei Charkiw vor – Situation „kompliziert“
Russische Truppen hätten mit der „Befreiung“ des Dorfes Liptsy in der Region Charkow begonnen, zitiert die staatliche russische Nachrichtenagentur Ria den Chef der Regionalverwaltung am Donnerstag. „Die wichtigste Stadt, die jetzt kurz vor der vollständigen Befreiung steht, ist zweifellos Woltschansk. Als Nächstes kommt die Siedlung Liptsy, unsere Leute sind bereits im Anflug“, so der Kommandeur laut Ria. „Die Arbeiten zu ihrer Befreiung beginnen, die Luftfahrt ist aktiv, die Artillerie ist im Einsatz. Sie arbeiten ständig und schweigen nicht.“
Zwar erklärte die ukrainische Armee am Donnerstag, dass ihre Streitkräfte den russischen Vormarsch in der Region Charkiw teilweise gestoppt und „die Lage teilweise stabilisiert“ hätten, musste aber dennoch eingestehen, dass die Situation nach wie vor „kompliziert“ sei.
Experten und Politiker schauen besorgt die Lage an der Front
Experten und Politiker aus dem Westen betrachten die Lage an der Front mit Blick auf die erheblichen russischen Geländegewinne und die zunehmend schwächelnde Verteidigung derweil mit großer Sorge.
Großbritanniens Verteidigungsminister Grant Shapps forderte angesichts der russischen Erfolge mehr Hilfe: „Ich hoffe wirklich, dass das der Weckruf ist, den wir versucht haben zu senden und der nun gehört wird“, sagte Shapps dem Fernsehsender Sky News am Mittwoch. Der Westen könne es sich nicht leisten, die Ukraine nur zeitweise zu unterstützen. Er forderte fortdauernde Hilfspakete. „Ich glaube, das ist die große Lektion aus dem, was in Charkiw passiert.“
Ukrainische Reserven laut Militärexperte „sehr, sehr dünn“
Die Ukrainer stünden in der Region Charkiw vor einer sehr prekären Situation, sagte Mick Ryan, ein ehemaliger Generalmajor der australischen Armee, in einem Interview mit dem Sender CNN. „Die Russen eröffnen eine zusätzliche Front und setzen die Ukrainer noch mehr unter Druck, wenn es darum geht, wo sie ihre Bodentruppen, ihre Artillerie und ihre Luftabwehr stationieren, die ohnehin schon unter enormem Druck stehen“, so der Militärexperte. Ryan zufolge verfüge die Ukraine noch über einige Reserven, diese seien jedoch „sehr, sehr dünn“.
Sicherheitsexperte Gustav Gressel ist ebenfalls davon überzeugt, dass der Ukraine schwere Monate bevorstehen. Die neue Munition aus den USA helfe zwar, es fehlten aber weiter schwere Waffen und weitreichende Artillerie-Systeme. Das mache die Verteidigung schwer, so Gressel in einem Interview mit dem Sender ntv am Mittwoch.
Lage an der Front bei Charkiw: Experte sieht Lichtblick für Ukraine
„Die Russen sind zurzeit im Leistungsmaximum. Sie haben etwa 125.000 Mann in der Ukraine stehen und 3400 Kampfpanzer, etwa 5000 gepanzerte Transportfahrzeuge und nochmal eine höhere Anzahl Artilleriesysteme.“ Es werde Monate dauern, bis die Russen ihre „Angriffswucht“ verlieren würden, schätzt Gressel.
Die positive Nachricht aus Sicht der Ukraine sei, dass an den Haupt-Frontabschnitten der Zusammenhalt der ukrainischen Kräfte bislang gehalten habe. Der ukrainischen Armee gelinge es immerhin, der russischen Seite weiter hohe Verluste zuzufügen. Die Ukraine habe viele Schwierigkeiten. „Ein zweites großes Problem ist, dass die Russen ganz gezielt Jagd auf Sanitäter machen“, so Gressel. Die Russen würden bewusst Einrichtungen des militärischen Sanitätswesens angreifen. Auch auf dem Schlachtfeld würden Sanitäter – entgegen der Genfer Konvention – gezielt beschossen. Sanitäter hätten die „prozentual die höchste Gefallenenzahl“ innerhalb der ukrainischen Waffengattungen.
Die Ukraine brauche vor allem Munition und gepanzerte Transportfahrtzeuge, außerdem sei „Fliegerabwehr ein Riesenproblem“.
Während die Ukraine an der Front in der Region Charkiw alle Hände um jeden Meter kämpfen, konnten sie am Donnerstag erneut eigene Nadelstiche setzen. Die zweite Nacht in Folge schlugen ukrainische Raketen auf dem Militärflugplatz Belbek ein. Der Flugplatz liegt auf der seit 2014 von Moskau annektierten Halbinsel Krim, offenbar trafen Geschosse eine Treibstoffanlage. Dadurch sei es zu einem Großbrand gekommen, wie das unabhängige Internetportal Astra am Donnerstag berichtete. Während das russische Verteidigungsministerium von abgefangenen Raketen sprach, bestätigten russische Militärblogger die Brände.
Wladimir Putin in China: Xi Jinping spricht von „politischer Einigung“
Fast zynisch wirken angesichts der prekären Lage an der Front Meldungen aus China, wo sich Russlands Präsident Wladimir Putin gerade aufhält. Zur Lösung des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine hielten Moskau und Peking zum jetzigen Zeitpunkt eine politische Einigung für eine geeignete Option. „Beide Seiten sehen eine politische Einigung als den richtigen Weg, um die Ukraine-Krise zu lösen“, sagte Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping am Donnerstag in Peking.
Experten bestreiten, dass Wladimir Putin tatsächlich an einer diplomatischen Lösung interessiert sei. „Es wird Frieden herrschen, wenn wir unsere Ziele erreicht haben“, hatte der 71-Jährige noch im Dezember 2023 bei seiner Jahrespressekonferenz verkündet.
Auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte in den vergangenen Monaten wiederholt seine Absage an Verhandlungen bekräftigt. Bedingung dafür sei, dass Russland seine Soldaten abziehe und eine Führung erhalte.