Jedes sechste Kind in NRW ist übergewichtig. Das Programm „Frühstart“ will schon den Kleinsten zeigen, wie gesunde Ernährung geht. Und macht nebenbei auch die Eltern fit.
Adipositas bei KindernWie die übergewichtige Rabia für ein gesundes Leben fit gemacht werden soll
Unter Wasser kann Rabia alles schaffen. Rückwärts schwimmen, tief tauchen, Rad schlagen, Handstand - „ohne Wand“. Über Wasser ist die Sache mühsamer. Aber Rabia versucht es trotzdem. Schleppt die türkisfarbene Matte ins Wohnzimmer, faltet sie auf, kniet mit dem Rücken zur Wand, stütz sich auf die Hände und klettert mit einem Fuß die Wand empor. Sie holt Schwung, sackt dann aber wieder zurück auf die Matte. Jetzt sitzt sie da im Schneidersitz und atmet schwer.
Die schwarzen Locken schlängeln sich wild um ihr Gesicht, wenn Rabia die Nase kräuselt und die Mundwinkel nach oben zieht, offenbart sie ihre Zahnlücke. Ob sie künftig verspreche, abends zu turnen, statt fernzusehen, fragt Lena Duske. „Ja“, sagt Rabia und schiebt ein „für heute Abend verspreche ich es“ nach. Ihre Mutter Büsra Dogan lacht. „Heute Abend kommt Besuch, da wird hier ohnehin nicht ferngesehen.“
Rabia ist sechs Jahre alt, sie geht in die erste Klasse, macht beim Schreiben immer höchstens „einen Fehler“, mag das Plusrechnen, aber nicht das Minus, sie bastelt gern, turnt ungern, besucht aber ausdauernd mit ihrer Mutter den Wald, um dort Marienkäfer aufzuspüren. Sie liebt Chips und Schokolade, Superheldenfilme und den Räuber Hotzenplotz. Im Schwimmkurs hat sie schon das Seepferdchen-Abzeichen erhalten. Nach dem Handstandversuch kuschelt sie sich aufs Sofa und versenkt den Blick in das Licht des blauen Kinder-iPads, das hier auf sie wartet. City Jumper, eine Mermaid, die Maus grüßen da auf bunten Kacheln. „Die Medienzeit ist unser Streitthema“, sagt Vater Cengiz Dogan. „Da müssen wir auch nicht lügen. Es fällt uns schwer, da Regeln durchzusetzen.“
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Schon elf Prozent der drei- bis sechsjährigen Mädchen sind übergewichtig
Vor gut einem Jahr, Rabia war fünf und die normalen Hosen spannten über dem Bauch, stiefelte Büsra Dogan mit ihrer Tochter zum Kinderarzt. „Ich hatte eine völlig falsche Vorstellung davon, was so ein Kind essen sollte. Ich habe vieles falsch gemacht. Ich wollte die Kontrolle wiederhaben“, sagt die 33 Jahre alte Frau, bückt sich lachend und hebt die sechs Monate alte Emine auf, die zu ihren Füßen mit einem Stoff-Donut gespielt hat. Der Kinderarzt habe sie zusammen mit dem damals zwei Jahre alten Mehmet und Rabia zur Mutter-Kind-Kur geschickt.
Heute ist die ganze Familie auf dem Weg zu einem aktiveren Lebensstil – über die Uniklinik Köln werden die Dogans über den Zeitraum von einem Jahr begleitet. Gesundheitswissenschaftlerin Lena Duske kommt einmal im Monat vorbei, sieht sich Ess- und Bewegungsgewohnheiten an, vermittelt Sportkurse, formuliert Ziele, gibt Tipps, motiviert zum Durchhalten. Duske ist Teil des Programms Frühstart, das sich an Eltern von Kindern mit Übergewicht zwischen drei und sechs wendet und von allen Krankenkassen unterstützt wird.
Jedes sechste Kind in NRW hat laut Gesundheitsatlas der AOK Rheinland Übergewicht oder Adipositas. Schon bei den Drei- bis Sechsjährigen wiegen fast elf Prozent der Mädchen und mehr als sieben Prozent aller Jungen zu viel. Eine Bagatelle ist das nicht. Schließlich drohen dem Vierjährigen mit den süßen Speckfalten später ernsthafte Gesundheitsrisiken wie Diabetes, orthopädische Erkrankungen, Herz-Kreislauf-Beschwerden oder sogar Darmkrebs, Depressionen oder ein Herzinfarkt.
Die Ursachen für die lauernde Gesundheitsgefahr umreißen Expertinnen und Experten recht schlicht mit dem Wort „Immobilisierungsverhalten“. Hoher Medienkonsum im Sitzen statt Toben im Wald oder auf dem Spielplatz. Ruhigstellen der Kinder mit Gummibärchen vor dem Fernseher statt Kuscheln, Reden und Vorlesen. „Schon an Kinderwagen sind heute die Handyhalter installiert“, sagt Professor Eckard Schönau, Ärztlicher Leiter der Uni-Reha an der Uniklinik Köln.
Jedes achte Kind hat nach Zahlen von Schuleingangsuntersuchen mit sechs Jahren einen eigenen Fernseher im Zimmer, jedes Fünfzehnte sitzt mehr als zwei Stunden täglich vor dem Bildschirm. Beide Zahlen waren vor der Pandemie noch etwa halb so hoch. Dazu kommt: Wenig Alltagsbewegung, weil selbst kurze Strecken zur Kita oder zum Bäcker statt zu Fuß oder dem Rad mit dem Auto zurückgelegt würden. Und dann ist da natürlich noch das Essen: Fischstäbchen, Nuggets, gesüßte Joghurts, Pommes, Cracker. Hochkalorisch, zu fett, zu süß und jederzeit verfügbar.
Kinder gucken sich oft schlechtes Verhalten ab
Um Kinder zu einem gesunden Bewegungs- und Essverhalten zu bewegen, müsse man bei den Eltern ansetzen. „In den meisten Fällen haben Kinder mit Übergewicht mindestens ein Elternteil mit Adipositas“, sagt Miriam Jackels, Adipositas-Trainerin und Ärztin beim Programm Frühstart. Die schlechte Nachricht: Kinder gucken sich oft schlechtes Verhalten ab, essen abends Chips, tränken Softdrinks, daddelten auf dem iPad – wie Mutter und Vater.
Die gute Nachricht: Wer bei den Eltern ein Umdenken einleitet, der könne auch die Kinder auf den richtigen Weg lotsen. Hier setzt Frühstart an. Teilnehmende Familien erhalten kostenlos ein Risikoscreening und ein Jahr lang Besuch von Coaches, die helfen, einen Weg in einen gesunden Familienalltag zu finden. Das Projekt wird wissenschaftlich begleitet und könnte bei Erfolg Einzug in die Regelversorgung finden. Bislang gibt es zwar einzelne Programme in Kitas, „ein flächendeckendes Angebot, das bei den Gynäkologen startet und die Kinder bis in die Schule begleitet“ suche man aber vergebens, sagt Professorin Stephanie Stock, Gesundheitsökonomin bei der Uniklinik Köln.
Dabei sind schon die ganz frühen Lebensjahre entscheidend für die Frage, ob ein Mensch einmal mit Übergewicht zu kämpfen haben wird oder nicht. Früher habe man dicken Kindern in die strammen Wangen gekniffen und gesagt, das wachse sich schon raus. Heute sei das anders. „Früher haben sie auch ferngesehen, aber nach zwei Stunden war das Kinderprogramm vorbei, da kam dann einfach nichts mehr. Heute kann man sein Kind 24 Stunden berieseln lassen“, sagt Schönau von der Uniklinik Köln. „Im Alter zwischen drei und sechs Jahren geht die Schere auseinander. Diejenigen, die im Kindergartenalter schlank sind, bleiben das sehr häufig auch. Die anderen nehmen immer mehr zu“, sagt Schönau.
„Wie fühlen Sie sich mit Ihrem Sportprogramm?“, fragt Lena Duske, die an diesem Mittwochmittag die Dogans in ihrer Wohnung in Burscheid besucht. „Wie kommen Sie mit den Veränderungen bei der Ernährung zurecht?“ und „Wie klappt es mit der Medienzeit im Alltag?“ Duske interessiert sich für Fortschritte, aber auch für das Wohlbefinden. Vater Cengiz Dogan streicht sich lächelnd über den kurzen Bart. Alle zwei Tage besuche er nun das Fitnessstudio.
„Eine halbe Stunde laufen, danach Krafttraining. Vorher war ich immer müde und irgendwie auch trübsinnig. Nach dem Sport fühle ich mich super, lockerer.“ Auch die süßen Getränke wie Red Bull und Coca-Cola habe er aufgegeben. „Das, was Sie auf dem Balkon sehen, habe ich noch im Oktober gekauft. Seit November rühre ich das nicht mehr an. Ich bin selbst stolz drauf.“ Und auch die Snacks bei der Arbeit – „früher habe ich bei der Spät- oder Nachtschicht an der Maschine immer Chips und Kekse gefuttert“ gehörten der Vergangenheit an. Duske nickt und notiert.
Informationen für Familien
Interessierte Familien können sich telefonisch über 0221/47830922 oder per Mail an fruehstart@uk-koeln.de wenden.
Falls der behandelnde Kinder- und Jugendarzt der Familie nicht an Frühstart teilnimmt, können Familien in einigen Regionen auch über teilnehmende Adipositaszentren eingeschrieben werden. Dies ist in Köln (UK Köln), Bonn (UK Bonn), St. Augustin (Asklepiosklinik), Düren (St. Marienhospital), Neuss (Rheinlandklinikum) und Mönchengladbach (Städtische Kliniken) möglich.
Auf der Internetseite Frühstart (fruehstart.uni-koeln.de) finden Sie alle wichtigen Informationen rund um das Projekt. Unter dem Reiter „Für Familien“ ist auch ersichtlich, welche Kinder- und Jugendarztpraxen bereits am Projekt teilnehmen. Auf Instagram ist Frühstart unter @fruehstart.info zu finden
Büsra Dogan dagegen ist eigener Aussage nach mit ihrem Bewegungsprogramm nicht so recht weitergekommen. „Nach zwei Minuten Hoola-Hoop habe ich aufgehört, es macht mir einfach keinen Spaß“, sagt die dreifache Mutter. Viele Termine, viele Erledigungen. Im Gespräch offenbart sich dann aber, dass da doch einige Erfolge in ihrem Alltag versteckt sind. Wenn sie Rabia und Mehmet morgens in die Schule und in den Kindergarten gebracht hat, dann drehe sie noch eine Runde mit dem schlafenden Baby im Wald. Zwar fahre sie viel mit dem Auto, parke aber häufiger einfach etwas weiter vom Ziel entfernt. Kleine Tricks, die Lena Duske verraten hat. „Auf meine 10.000 Schritte am Tag komme ich so immer.“
Auch bei der Ernährung hat Büsra einen anderen Kurs eingeschlagen. „Früher gab es zum Fernsehen immer Chips, Süßigkeiten. Heute gibt es höchstens mal Heidelbeeren oder Nüsse.“ Zwanzig Kilogramm habe sie auf diese Weise abgenommen. „Ich habe kein Verlangen mehr nach Süßem. Ich komme den Berg zu unserer Siedlung wieder hoch, ohne zu schnaufen. Ich bin selbstbewusster geworden.“ Auch Fixgerichte mit Geschmacksverstärkern habe sie aus der Küche verbannt. „Ich versuche, bewusster an die Sache ranzugehen, schon beim Einkaufen.“ Zuletzt habe sogar ihr Mann sie gebeten, etwas mit Gemüse zu kochen. Das neue Lieblingsgericht der Familie: Brokkoli-Salat. Rabia nennt ihn „Apfelsalat“, nimmt den Brokkoli darin aber in Kauf.
Ganz aus dem Alltag verbannen will Büsra Dogan die Süßigkeiten für ihre Kinder allerdings nicht. Heute Abend steht Plätzchenbacken auf dem Programm. Nach dem Backen will Rabia die Kekse noch verzieren. „Mit Marshmallow, Schokolade und Streuseln.“ „Und dann isst du alle auf einmal auf?“ fragt Duske lachend. Rabia ist auf der Hut. Sie hat gelernt, dass es von Süßigkeiten nur eine Portion pro Tag gibt. Und dass mit einer Portion keine riesige Salatschüssel voll gemeint ist, sondern nur das, was in ihre Kinderhand passt. „Nein, nur zwei Kekse“, schlägt sie vor. Ohnehin sei die Frage, wie viel sie überhaupt abbekomme. Schließlich kommen Onkel und Tanten zu Besuch. „Und wir essen die ja mit allen zusammen.“
Lena Duske sitzt mittlerweile mit Rabia auf dem Boden, die Turnmatte haben sie zur Seite geschoben. Dafür hat die Beraterin Tierkarten verteilt, deren Bewegungen sie gemeinsam nachahmen. Ein Frosch ist da zu sehen. Ein Storch. Ein Krebs. Ein Gorilla. Ein Bär. Ein Seestern. Rabia steht auf einem Storchenbein. Rabia krabbelt auf allen Vieren ins Kinderzimmer und wieder zurück. Rabia springt und zeigt Hampelmann-Sprünge. Am Ende ist sie erschöpft, aber ihre dunklen Augen funkeln. Vielleicht, sagt sie, verspricht sie das mit dem Turnen statt Fernsehen auch „für morgen und übermorgen“.