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Zeugnisausgabe in NRWWie gerecht können die Noten im Corona-Jahr sein?

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Heute gibt es in NRW Zeugnisse für das Corona-Schuljahr 20/21.

Düsseldorf – Homeschooling, Hybridunterricht, soziale Distanz und auf den letzten Metern vor den Sommerferien wieder ein paar Tage Präsenzunterricht, falls nicht doch, wie auch in einigen Schulen in NRW, die komplette Klasse in Quarantäne geschickt werden muss: Wenn am morgigen Freitag die Zeugnisse ausgegeben werden, haben alle ein Schuljahr hinter sich, das sich unter den Vorzeichen der Pandemie kaum mit anderen Jahren vergleichen lässt.

Genau das aber, Vergleichbarkeit, soll nach den Worten der nordrhein-westfälischen Bildungsministerin Yvonne Gebauer (FDP) für die Noten gelten. Selbst als es massive Proteste über die Abituraufgaben im Fach Mathematik gab, beharrte die Ministerin darauf, dass die getroffenen Maßnahmen ausreichten, um das Corona-Jahr nicht zur absoluten Ausnahme erklären zu müssen: Schülerinnen und Schüler hätten mehr Zeit für die Vorbereitung gehabt, Lehrkräfte hätten mehr Aufgaben stellen dürfen als sonst. Zudem sei es angesichts der äußeren Umstände in diesem Schuljahr nicht nur zulässig, sondern „ausdrücklich gewünscht, dass die Lehrkräfte innerhalb der ihnen vorgegebenen Bewertungskriterien ihren vorhandenen Beurteilungsspielraum im Sinne der Schülerinnen und Schüler nutzen“, heißt es auf Anfrage des „Kölner Stadt-Anzeiger“ aus dem NRW-Schulministerium.

Noten sind auf Präsenzunterricht ausgerichtet

Doch an den letzten Tagen dieses Schuljahres ist der Unmut groß. Die Vertretung der Schüler und Schülerinnen in Nordrhein-Westfalen ist der Auffassung, dass die Zeugnisse nach dem Corona-Schuljahr ganz und gar nicht aussagekräftig seien. „Die Bewertungskriterien sind alle auf Präsenzunterricht ausgerichtet“, sagte Xueling Zhou – sie ist Mitglied im Landesvorstand der Landesschülervertretung.

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Und auch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft ist der Meinung, dass die gegenwärtige Notengebung und Zeugnisvergabe nicht auf die speziellen Bedingungen der Monate im Distanzunterricht eingehen würde: Vielen Kindern und Jugendlichen fehlten lange schlicht die technischen Voraussetzungen, es mangelte an Expertise in der digitalen Vermittlung der Lernstoffe, und Plattformen wie Moodle, die von der NRW-Landesregierung vorangetrieben werden, verfügen erst seit wenigen Monaten über Konferenztools, die für einen funktionierenden Dialog zwischen Lehrkräften und Schülerinnen und Schülern unerlässlich sind.

Auch Jochen Ott, Bildungsexperte der SPD und Mitglied der Opposition im NRW-Landtag kritisiert: „Die Landesregierung hat die Lehrkräfte unvorbereitet in den Distanzunterricht geschickt und keinerlei Fortbildungskonzept angeboten, wie man in diesen herausfordernden Zeiten Leistungen angemessen bewertet.“ Zudem existiere noch keine digitale Prüfungskultur, sondern nur traditionelle Prüfungsformate, bemängelt Ott weiter. Doch nur so könne eine Notengebung umfassend sein und sich nicht auf die wenigen Stunden in Präsenz beziehen.

Hinsichtlich der Prüfungen sei es die Leitlinie der Landesregierung, „dass den Schülerinnen und Schülern keine pandemiebedingten Nachteile entstehen dürften“, heißt es hingegen aus dem Schulministerium. In Nordrhein-Westfalen wurde in diesem Halbjahr auf das Verschicken der sogenannten Blauen Briefe verzichtet. Anders als im vergangenen Jahr können leistungsschwache Schüler aber trotzdem sitzenbleiben. Sie können eine Klasse auch freiwillig wiederholen, ohne dass das auf die maximal zugelassene Verweildauer an der Schule angerechnet wird. Das sieht das Zweite Bildungssicherungsgesetz des Landes NRW vor, mit dem CDU und FDP auf die besonderen Bedingungen unter Corona reagieren. So, teilt das NRW-Ministerium mit, sollen vollwertige Abschlüsse ermöglicht werden, „die ohne Abstriche in ganz Deutschland anerkannt werden.“

Leistungsbewertung auch sonst eine der schwierigsten Aufgaben

Doch besonders die Zeugnisse der Abschlussjahrgänge sind strittig, bilden sie doch die Grundlage für den weiteren Ausbildungsweg der Absolventinnen und Absolventen. Die Sorge ist groß, dass ihnen bei der Ausbildungs- oder Jobsuche Nachteile entstehen könnten. Roberto Lepore, Abteilungsleiter Berufliche Orientierung der Handwerkskammer zu Köln sieht diese Gefahr jedoch nicht: „Wir vertrauen auf die Expertise und die Objektivität der Lehrerinnen und Lehrer, die ja schon vor Corona ihre Schülerinnen und Schüler kannten und sich deren Stärken und Schwächen bewusst sind.“ Schwierig könnte nach Einschätzung der Handwerkskammer hingegen die mangelnde Einbindung von praktischen Kompetenzen in den Distanz- und Wechselunterricht sein, die im Handwerk gefragt sind,

Auch vor diesem Hintergrund erklärt der Verband Bildung und Erziehung (VBE) in Nordrhein-Westfalen, dass die Messung und Bewertung der Leistung auch in normalen Jahren eine der schwierigsten Aufgaben der Lehrkräfte sei - nach einem Schuljahr, wie dem abgelaufenen stelle dies jedoch eine ganz besondere Herausforderung dar. Doch der VBE hält ebenso daran fest, dass „auch im Distanz- und Wechselunterricht Lern- und Leistungsfortschritte durch die Lehrkräfte beobachtet und bewertet werden können“, so der Landesvorsitzende Stefan Behlau.

Die außergewöhnlichen Leistungen der Kinder und Jugendlichen würden durch die Lehrer berücksichtigt, meint Behlau. „Denn neben dem pädagogischen Personal in den Schulen waren es die Schülerinnen und Schüler, die besondere Leistungen in diesem Schuljahr gezeigt haben“ – eine Haltung, die Bildungsministerin Gebauer durchaus teilt, indem sie mehrfach im vergangenen Schuljahr darauf hinwies, dass die Vorzeichen dieses unnormalen Schuljahres im Bewertungshorizont selbstverständlich berücksichtigt würden. Die Schülerinnen und Schüler hätten in diesem besonderen Schuljahr alle Herausforderungen vorbildlich gemeistert, sagte die Ministerin dieser Zeitung. „Sie haben in der Pandemie Herausragendes geleistet. Dem gebührt unser Respekt und unsere Wertschätzung“, so Gebauer weiter.

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Gerade unter jungen Menschen, die nach ihrem Schulabschluss nun auf der Suche nach einer passenden Ausbildung oder einem Beruf seien, stelle er aktuell eine große allgemeine Verunsicherung fest, sagt Lepore von der Kölner Handwerkskammer. „Viele von ihnen unterliegen dem irrtümlichen Glauben, dass coronabedingt ein Praktikum oder eine Ausbildung nicht möglich sei“, das sei jedoch falsch. Zudem weist Lepore darauf hin, dass bei einer Bewerbung nicht einzig die Zeugnisnoten ausschlaggebend seien. „Wichtig sind die Motivation und die Chemie zwischen beiden Parteien.“ Stimme alles, stehe einem Ausbildungsvertrag nichts im Weg, so Lepore weiter, „da spielen schlechte und nicht bewertbare Schulleistungen eine untergeordnete Rolle.“

Die Landesschülervertretung pocht hingegen darauf, dass die Corona-Pandemie die Folgen sozialer Ungleichheit verstärkt habe. Es gebe eine große Lücke zwischen sozial Starken und Schwachen. „Manche Schüler mussten sich ein digitales Endgerät beim Lernen zuhause mit fünf Geschwistern teilen, andere hatten mehrere Computer für sich alleine“, berichtete die Sprecherin. Die Ausstattung der Schulen mit Endgeräten habe wegen der damit verbundenen großen Bürokratie nicht geklappt. Auch der Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Heinz-Peter Meidinger, weist auf dieses Problem hin – es seien besonders sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche durch das Distanzlernen abgehängt worden.