Über die Stadtgrenzen hinaus bekannt ist eine Leverkusener Großfamilie.
Unser Autor Ralf Krieger hat sich auf Spurensuche begeben: Woher stammt die Familie, wie kam sie nach Leverkusen?
Der erste Lagerplatz in der Stadt vor 50 Jahren war in Hummelsheim. Lesen Sie hier nochmals den ausführlichen Bericht aus unserem Archiv, der 2021 zu den meistgelesenen Texten aus Leverkusen gehörte..
Leverkusen – Immer wieder sorgen die Mitglieder einer Leverkusener Großfamilie für Schlagzeilen. Sie leben erst ein paar Jahrzehnte in Leverkusen. Woher kamen sie? 2014 begab sich Autor Ralf Krieger auf Spurensuche in die Archive. Der Bericht:
Die Geschichten, mit denen Mitglieder der stadtbekannten Großfamilie in der Zeitung stehen, drehen sich in den letzten Jahren oft um Betrug, Sozialbetrug, Enkeltrick und Schockanrufe. Erst im November 2019wurden im Rahmen einer Razzia von Kriminalpolizei und Staatsanwaltschaft die Wohnungen an der Kaiserstraße durchsucht. Gleiche Familie, andere Ermittlungen: Im gleichen Monat wurde Michael G. zu acht Jahren Haft verurteilt, weil er ein Frechener Ehepaar um über eine Millionen Euro betrogen hatte.
Zwei Sippen
Aber nicht immer stand diese Familie mit Berichten über Straftaten und Ermittlungen im Blick der Öffentlichkeit. Es ging um das Thema Integration. Darüber aber wird schon lange nicht mehr geredet.
Die Quellen sind rar. Akten bei den Behörden sind noch verschlossen, einzig Zeitungsausschnitte finden sich im Stadtarchiv. In größeren Abständen gab es Berichte über zwei „Sippen“, die sich in Leverkusen niedergelassen hatten.
Die Gruppe stammt aus Osteuropa
Die Gruppe stammt aus Osteuropa. Sinti und Roma wurden in der Nazizeit verfolgt: In einem Zeitungsartikel in der Leverkusener Ausgabe der Kölnischen Rundschau (KR) vom November 1967 steht, dass Familienmitglieder in Konzentrationslagern inhaftiert waren. 1959 sei der 2000-köpfige Stamm aus Polen und aus der DDR ausgereist; eine andere Quelle besagt, die Sippe sei ausgewiesen worden.
Westdeutsche Behörden machten Auflagen – der Stamm musste sich aufteilen. Die Zahlen der in Leverkusen lebenden Clan-Mitglieder schwanken: In einem Text aus den 60er Jahren ist von 130 Personen die Rede, in Artikeln aus der Mitte der 70er Jahre wird die Gruppe auf 70 Personen geschätzt.
Suche nach einem Lagerplatz
Die ersten 20 Jahre lebten die Großfamilienmitglieder noch klassisch in Wohnwagen. Zunächst, bis etwa Ende 1969 standen diese auf einen Lagerplatz in Hummelsheim an der Dhünn, den Platz hatten sie von einem Landwirt gepachtet, einen eigenen Brunnen in der Dhünnaue hatten sich die Familien selbst gebohrt. Ein erstes Mal kam die Großfamilie 1967 in die Schlagzeilen.
Erstmals 1967 in den Schlagzeilen
Sie sollten ihren Standplatz räumen. Der rund: Die „City-Bau KG“, Investor der Wiesdorfer Beton-City, plante nahe des Lagerplatzes eine Bungalow-Siedlung.
„Siedlung und Zigeunerlager vertragen sich schlecht“, hieß es in einem Artikel in der KR, es habe Klagen über schlechte Zustände und Unfug treibende Kinder gegeben – auch, dass die Behörden allzu rigoroses Vorgehen scheuten, da es sich um ehemals politisch Verfolgte handele, und dass man sich scheue, den Platz einfach zu räumen.
Uppersberger wehrten sich gegen den Lagerplatz
Kompliziert war die Suche nach einem neuen Lagerplatz. Schon 1967 stand der Wunsch der Familie im Raum, man wolle in Leverkusen auf Dauer sesshaft werden, man sei jetzt Leverkusener Bürger.
Ins Gespräch kam ein Platz in Uppersberg. Die dortige Bevölkerung nahm offenbar eine strikte Abwehrhaltung ein. 1968 verhinderte man laut einem Zeitungsartikel „den Umzug der Zigeuner auf die Höhen von Schlebusch nahe Stella Maris“ an der Erbelegasse.
Bei einer Nachbarschaftsversammlung im Gasthaus Gerfer habe die Stimmung „auf Sturm“ gestanden, hielt ein Reporter damals fest. Es scheint, dass der Großfamilie die Stimmung auch nicht gefallen hat, denn fast gelang es ihnen laut einem anderen Bericht, ein Grundstück bei Bad Hönningen am Rhein zu pachten. Aber sie blieben in Leverkusen.
Das Ordnungsamt war stets beteiligt, Verwaltungschef Walter Bauer sagte einmal: „Die Hoffnung ist freilich nicht sehr groß, dass uns eine andere Gemeinde die Sippe abnimmt.“
Unsicherheit herrschte auf allen Seiten
Unsicherheit über die Zukunft herrschte auf allen Seiten: Der fast fertig gestellt Platz in Uppersberg konnte Anfang 1969 wegen Anwohnereinsprüchen nicht bezogen werden. Die Wohnlage unten an der Dhünn auf verkleinertem Raum war beengt, die Familie machte die Stadt verantwortlich, nicht den Investor. Ergebnis: Die Gruppe blieb zunächst in der Nähe von Hummelsheim.
1976 gab es einen neuen Lagerplatz an der Schlangenhecke. Der „Leverkusener Anzeiger“ berichtete aus dem Stadtrat: „Die Verwaltung verspricht sich von der Verlagerung näher an die Stadt einen Impuls für die Integrationsbestrebungen.“ Beim Amt gab es eine andere Hoffnung: „Möglicherweise bringe man es auf Dauer zuwege, dass die Zigeuner ihre Kinder in die Schule schicken.“
Ob es auf längere Sicht gelingen könne, die Sippe in Wohnungen in der Stadt unterzubringen, sei unklar, alle Versuche dahingehend seien gescheitert, hieß es vom Beigeordneten Claus-DieterHärchen. Es sei zu prüfen, welche Maßnahmen zur sozialen Integration möglich seien.
Anfang der 80er Jahre: Umsiedlung nahm ihren Lauf
Anfang der 80er-Jahre: Die Umsiedlung der Menschen aus den Campingwagen in Wohnungen an der Hauptstraße in Wiesdorf nahm ihren Lauf – mit Unterstützung der Stadtverwaltung: Es gab Zuschüsse zwischen umgerechnet 10 000 und 30 000 Euro für Vermieter, die Mitgliedern der Großfamilie für ein paar Jahre eine Wohnung vermieteten.
Später erwarben einige Mitglieder Eigentum, etwa die bekannte Türmchenvilla in der Waldsiedlung.
So schwierig das Verhältnis der Großfamilie zu ihrer Umgebung jetzt sein mag, an guten Vorsätzen zur Integration hat es nie gemangelt. So wird 1981 der Sprecher der Sippe, der dort Moro genannt wird, im „Leverkusener Anzeiger“ zitiert: „Wir schulden der Stadt Dank. Wir sind auch bereit, uns der Lebensart in Leverkusen anzupassen. Wir fühlen uns alle als Leverkusener Bürger und möchten sehr gern genauso leben und wohnen wie die Deutschen.“
Zu der Zeit liefen laut dem Artikel die Einbürgerungsverfahren. Aus den staatenlosen Leverkusenern wurden Deutsche. Der Ordnungsamtschef Felix Keil sagte im selben Artikel: „Das Modell Leverkusen (das heißt: die Unterbringung in verstreut liegenden Wohnungen) beweise, dass die von ihrer Natur her vom Fernweh getriebenen Menschen integriert und sesshaft gemacht werden können, ohne der Gefahr der Abkapselung zu erliegen.“