- Stress im Beruf, immer mehr Freizeittermine, ständig erreichbar sein. Was hilft dagegen?
- Oberarzt Jens Friedrich vom Klinikum Leverkusen bietet Achtsamkeitskurse an: MBSR ("Mindfulness based stress reduction"). Was steckt dahinter?
- Wir haben uns mit ihm über die Auswirkungen von Stress auf die Menschen und die Gesellschaft unterhalten.
Leverkusen – Stress im Beruf, immer mehr Freizeittermine, ständig erreichbar sein. Seit vergangenem Jahr bietet Oberarzt Jens Friedrich vom Leverkusener Klinikum Anti-Stress-Kurse an. Sie folgen einem Aufbau, den der US-amerikanische Biologe Jon Kabat-Zinn in den 60er Jahren entwickelt hat. „Mindfulness-based stress reduction“ (MBSR) nennt sich die Methode (übersetzt: „Stressreduzierung durch Achtsamkeit“). Wir haben mit Friedrich darüber gesprochen, was immer mehr Stress mit Menschen und der Gesellschaft macht und wie man lernen kann, damit umzugehen.
Sind die Leute in den vergangenen Jahren stressanfälliger geworden – oder ist es das Leben, was immer stressiger wird?
Letzteres ist der Fall. Ich glaube, dass der Druck in unserer Gesellschaft immer mehr zunimmt. Alles muss immer schneller gehen, am liebsten gestern schon. Ein schönes Beispiel ist der Internetversand: Ich bestelle etwas, das ist heute Nachmittag da – aus Pusemuckel oder woher auch immer, ganz egal. Das muss aber irgendwer machen: Da stehen Menschen dahinter, die das umsetzen. Ich glaube, dass der Mensch gerade in der westlichen Welt allmählich an einem Punkt ist, wo die biologische Leistungsgrenze erreicht ist. Auf der anderen Seite entsteht aber gerade eine Sensibilität, dass man gegen den Stress auch etwas tun kann. Stress hat viel mehr damit zu tun, wie wir etwas erleben, als mit dem, was außen passiert. Was Stress bedeutet, ist höchst individuell. Denn das, was Stress verursacht, ist meine Reaktion auf das, was passiert.
Was antworten Sie Menschen, die zum Beispiel sagen: „Ach früher, im Krieg, da haben wir das Leben auch hinbekommen. So schlimm kann es doch heute nicht sein.“?
Solche Themen betreffen uns zurzeit – Gott sei Dank! – nicht in unserer Alltagswelt. Natürlich sind Kriegsszenarien maximale Stressmomente, ohne Frage, aber das Alltagsleben dazwischen war anders. Ein Beispiel: Wenn ich irgendwem eine Information zukommen lassen wollte, dann habe ich einen Brief geschrieben, zur Post gebracht und drei Tage später war er da – und dann musste er ja noch retour. So war eine Woche um, bis ich die Information hatte und damit arbeiten konnte. Heute schicke ich eine Mail an egal wo auf der Welt und habe drei Minuten später die Antwort. Und das mache ich nicht nur einmal, sondern – weil es ja schnell geht – gleich zehnmal.
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Was genau ist für Sie Achtsamkeit?
Wenn man einem Kind beim Spielen zusieht, ist es nur bei dem, was es gerade macht. Die ganze Welt drumherum taucht ab. Das ist Ausdruck von Achtsamkeit. Der Begriff per se meint, dass man mit bewusster Aufmerksamkeit bei der Erfahrung des gegenwärtigen Momentes ist – wohlwollend, ohne zu urteilen. Wie ein Lichtkegel, der im dunklen Keller auf verschiedene Dinge trifft: Man sieht nur den Ausschnitt und konzentriert sich darauf. Früher gab es viel mehr „achtsame“ Momente, wo die Menschen für sich waren. Wann ist man heutzutage schon alleine und für sich? Für viele Kursteilnehmer ist es schon eine Herausforderung, zu Beginn das Handy auszuschalten. Es gibt mittlerweile kaum Momente, wo man irgendwo ist, wo man nichts tut – außer da zu sein. Viele fühlen sich direkt gelangweilt, einfach weil das Tun wegfällt. Wir sind quasi mehr „Human Doings“, als „Human Beings“.
Wie sind Sie dazu gekommen, MBSR- Kurse anzubieten?
Ich habe vor knapp zehn Jahren angefangen, mich für das Thema Achtsamkeit zu interessieren – und bin dann durch einen Krankheitsfall in der Familie an das Konzept MBSR gekommen. Ich habe als Betroffener sehr davon profitiert. Das hat mir in der krisenhaften Zeit unglaublich geholfen. Ich war davon so angetan, dass ich mir gedacht habe: Das müssen mehr Menschen kennenlernen.
Warum ist Ihrer Meinung nach das Konzept MBSR erfolgreich?
Es appelliert an ganz ureigenste menschliche Fähigkeiten, wie „aufmerksam sein“. Etwas, was wir in der heutigen Zeit fast schon verlernt haben. Durch Medien, durch die Informationsflut. Es geht darum, wieder ein Stück zurückzutreten, die Geschwindigkeit rauszunehmen. Die Kurse sprechen auch eine Körperlichkeit an, die in unserer heutigen Zeit unter die Räder gekommen ist. Zu spüren, was in mir passiert. Auf die Signale meines Körpers zu hören. Ein Beispiel: Ein Patient mit drei Herzinfarkten behauptet steif und fest: „Stress? Kenne ich nicht.“ Da ist offenbar etwas übersehen worden. Da gab es viele Signale, letztendlich musste der Körper dann die Notbremse ziehen.
Wer ist der typische Teilnehmer, der zu Ihnen in den Kurs kommt?
Das Spektrum reicht von Menschen, die Meditationserfahrung machen wollen – außerhalb eines spirituellen Rahmens, denn MBSR ist absolut säkular und nicht-religiös! – bis hin zu Schmerzpatienten oder Menschen, die Stress auf der Arbeit, familiäre Belastungen oder Schicksalsschläge erlitten haben. Es waren schon IT-ler dabei, Leute aus der Logistikbranche, Psychologen, Ärzte, aber auch Rentner. Nur Jugendliche sind eher nicht dabei.
Sind die Deutschen eher skeptisch und denken: „Dieser ganze esoterische Kram ist nichts für mich.“?
Esoterik hat mit Meditation oder Achtsamkeit nichts zu tun. Aber ich gebe Ihnen recht, dass es häufig in einen Topf geschmissen wird und ein „Geschmäckli“ hat – das aber meiner Meinung fehl am Platz ist.
Achtsamkeit ist in den vergangenen Jahren zum Modewort geworden. Haben Sie keine Angst, dass der Begriff irgendwann inhaltsleer wird? Oder Interessierte auf eine falsche Fährte gelockt werden?
Es wird gerade in der Werbung viel suggeriert. Grundsätzlich ist es ja immer so, dass es bei neuen Strömungen viele Trittbrettfahrer gibt. Aber das ist andererseits auch Ausdruck der Tatsache, dass Achtsamkeit funktioniert. Wenn das alles Murks wäre, würde es gar nicht zu der Situation kommen, dass es jeder mitnehmen möchte. Der Hype wird sicher auch wieder abflauen, wenn die nächste Sau durchs Dorf getrieben wird. Das Thema Achtsamkeit und MBSR wird aber als Essenz bleiben, weil es funktioniert.
Das Gespräch führte Agatha Mazur
Zur Person Jens Friedrich
Jens Friedrich arbeitet seit 2011 am Klinikum und hat sich auf Anästhesie, Intensivmedizin und Notfallmedizin spezialisiertDer 53-jährige Oberarzt (verheiratet, zwei Kinder) wohnt in Hennef und hat eine zweijährige Ausbildung zum MBSR-Lehrer absolviert. Der nächste Kurs am Klinikum beginnt am 30. Januar.
www.klinikum-lev.de
friedrich-mbsr@gmx.de
Was ist MBSR?
Die Methode „Mindfulness-based stress reduction“ (MBSR) baut auf mehreren Modulen auf und wird meist in einem mehrwöchigen Kurs angeboten. Teilnehmer lernen, im Sitzen zu meditieren, auch Yoga-Übungen können eingeflochten werden. Bei einer Übung namens „Bodyscan“ wird die Aufmerksamkeit auf den Körper gelenkt. Alle Übungen sollen die Achtsamkeit schulen, so dass man im Alltag besser in Stresssituationen zurechtkommt, sich mehr auf das „Hier und Jetzt“ konzentrieren kann und sich nicht in kräftezehrenden Gedankenspiralen verliert.
Die Methode MBSR hat in der Medizin in Form von Behandlungsempfehlungen verschiedener Fachgesellschaften vielen Bereichen Einzug gehalten, erklärt Jens Friedrich vom Leverkusener Klinikum. Diverse gesetzliche Krankenkassen bezuschussen MBSR bereits als gesundheitsfördernde Maßnahme.In Deutschland gibt es den MBSR-MBCT-Verband, der sowohl als Interessensvertretung wie auch als qualitätssichernde Institution fungiert und Kursanbieter auszeichnen. (aga)
www.mbsr-verband.de