Kurz vor Schluss der Beweisaufnahme meldet sich die Schwester des Messerstechers zu Wort. Ist die Tat vielleicht Totschlag und nicht Mord?
Wende im Leverkusener MordprozessWusste die Rheindorfer Familie Bescheid?
Der Mord in Rheindorf wirft immer neue Fragen auf. Die These, Ali L. (Name geändert) habe seine schwangere Freundin und ihr Kind aus Angst vor einer Ächtung durch seine Familie getötet, lässt sich nicht mehr aufrecht erhalten – jedenfalls aus Sicht des Verteidigers Gottfried Reims. Denn am Donnerstag erklärt die elf Jahre ältere Schwester des Angeklagten, dass nicht nur sie von der Freundin und deren Schwangerschaft gewusst habe, sondern auch ihre Mutter. Und: Die 75 Jahre alte Frau habe sich auf das Kind gefreut.
In ihrer Familie sei eine deutsche Freundin „überhaupt kein Problem“, unterstreicht die Schwester, die augenscheinlich frank und frei Auskunft gibt. Die Vorstellung, da habe ein Muslim unter äußerstem Druck seines Umfelds seine schwangere deutsche Freundin erstochen, damit die Wahrheit nicht ans Licht kommt, bestätigt sich in der rund zweistündigen Vernehmung kein bisschen. „Ich wollte sagen, dass die Familie alles wusste“, sagt die Schwester. Das richtig zu stellen, sei auch der Grund, warum sie sich nach langem Zögern entschlossen habe, auszusagen.
Die Schwester hat Angst vor der Familie des Opfers
Allerdings traut sie sich dafür nicht in den Saal 210 des Kölner Landgerichts, in dem an diesem Tag die 21. Große Strafkammer tagt. Die 45-Jährige ist aus einem anderen Raum zugeschaltet, ihre Vernehmung erfolgt über Video, weil sie „der dringenden Gefahr ausgesetzt ist, schwerwiegende Nachteile“ zu erleiden, so formuliert es der Vorsitzende Richter Alexander Fühling.
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Der Hintergrund: Am 22. März waren Unbekannte auf den Balkon der Wohnung in Rheindorf gestiegen, in der Ali L. mit seiner Mutter lebt. In der Nachbarschaft wurde nach weiteren Angehörigen gefragt, im Gericht herrschte phasenweise eine aggressive Stimmung – was auch die beiden Neffen des Angeklagten zu spüren bekamen, die den Mordprozess seit dem ersten Tag verfolgen: Familie und Freunde des Opfers Jacqueline E. reagierten immer wieder sehr emotional auf das Geschehen.
Erst recht, weil es für die entsetzliche Bluttat vom 27. Oktober 2023 keine Erklärung zu geben scheint. Ali L. ist außerstande, sich zusammenhängend zu äußern. Was bleibt, sind mindestens zehn Messerstiche, mit denen der 34 Jahre alte Mann seine in etwa gleich alte Freundin auf dem Wendeplatz der Ilmstraße in Rheindorf-Nord an jenem Freitagabend tötete. Auch am Donnerstag wird einer der Angehörigen des Opfers von seinen Gefühlen übermannt. Der Vater von Jacqueline E. muss daraufhin den Saal verlassen und wird mit einem Ordnungsgeld von 250 Euro wegen „ungebührlichen Verhaltens“ belegt.
Ein Nesthäkchen, das im Kinderzimmer wohnt
Weil Ali L. trotz größter Bemühungen durch Richter Fühling kaum etwas sagt, sondern den Prozess gegen ihn meist mit Tränen in den Augen über sich ergehen lässt, ist die Aussage seiner älteren Schwester überaus wertvoll. Sie zeichnet das Bild eines Nesthäkchens, das in der Schule und im Beruf nicht viel auf die Reihe bekommen hat. Er habe es allerdings auch „schwer gehabt“, berichtet die Schwester.
Der schon recht betagte Vater habe immer wieder Schlaganfälle erlitten und später an der Dialyse gehangen. Die Mutter habe ihn gepflegt, und so sei ihr kurz nach dem Abitur die Rolle „einer Art Ersatzmutter“ für Ali zugefallen – was sie letztlich überfordert habe. Als für den Vater wegen seiner verschiedenen Leiden nur noch eine Pflegeeinrichtung in Dresden infrage kam, seien Mutter und Bruder für acht Monate dorthin gezogen, um sich um den Schwerkranken zu kümmern. Gestorben ist er dann vor rund drei Jahren im Klinikum, danach sei Ali L. „nicht mehr bei sich“ gewesen, beschreibt die Schwester den Gemütszustand.
Wird er endlich erwachsen?
Die Mutter habe mit der Beziehung zu Jacqueline E. und der sich anbahnenden Vaterschaft sogar die Hoffnung verbunden, dass ihr Sohn jetzt endlich einen Entwicklungssprung macht, sich wieder einen festen Job sucht, nicht mehr alles schleifen lässt.
Die Schwester, die im selben Haus eine Etage über Mutter und Bruder wohnt und ihm immer wieder Geld zusteckte, sah das auch so: Nach acht Jahren habe er sich endlich bei der Krankenkasse angemeldet und beim Job-Center. Alles Anzeichen dafür, dass sich hier ein Mann Mitte 30 darauf vorbereitet, Vater zu sein und Verantwortung zu übernehmen. Dass die Mutter seines Kindes in diesem Plan eine Rolle spielt – daran habe er jedoch Zweifel gehabt, weiß die Schwester: „Er wusste nicht, ob er mit ihr zusammenbleibt.“ Für das grauenhafte Ende hat sie „absolut keine Erklärung“.
Der Rheindorfer ist voll schuldfähig
Die hat auch der psychiatrische Gutachter nicht. Stephan Roloff-Stachel spricht von einem eher verschlossenen Mann, der schon seit vier Jahren keinen Job mehr hat, als er Jacqueline E. kennenlernt. Eine psychische Krankheit erkennt Roloff-Stachel indes nicht. Der Angeklagte sei „voll schuldfähig“. Aber die ständigen Aufs und Abs in der Beziehung sprächen nicht dafür, dass hier zwei reife Menschen eine gemeinsame Zukunft aufbauen können.
Darauf rückt auch Verteidiger Reims das Augenmerk. Für ihn ist das ein Punkt, der Ali L. entlastet. Er unterstellt auch, was die Staatsanwältin als „unglaubhaft“ bezeichnet: dass tatsächlich Schwester und Mutter von der Freundin wussten und der Schwangerschaft. In der Bewertung macht das den Unterschied: Während die Staatsanwältin und die Anwälte der Mutter und der Halbschwester, des Bruders und der beiden Kinder von Jacqueline E. beim Vorwurf Mord bleiben, auf den eine lebenslängliche Freiheitsstrafe folgen würde, sieht Verteidiger Reims „nur“ einen Totschlag.
Für die Mutter Hildegard E. macht das keinen Unterschied: „Du hast nicht nur unsere Familie zerstört. Du hast auch Deine Familie zerstört“, sagt sie Ali L. ins Gesicht. Der bringt unter Tränen wieder nur einen Satz hervor: „Es tut mir leid.“ Das Urteil spricht die 21. Große Strafkammer nächsten Montag.