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Sturm auf Kapitol und ReichstagWarum sich diese zwei Angriffe gewaltig unterscheiden

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Sturm auf das Kapitol: Abgewählter Präsident Donald Trump hat seine Anhänger, darunter schwer Bewaffnete, regelrecht aufgehetzt. 

Berlin – Außenminister Heiko Maas twittert: „Die Feinde der Demokratie werden sich über diese unfassbaren Bilder aus Washington, D.C. freuen. Aus aufrührerischen Worten werden gewaltsame Taten – auf den Stufen des Reichstages, und jetzt im Kapitol. Die Verachtung demokratischer Institutionen hat verheerende Auswirkungen.“ Beide Szenen, am Mittwoch in Washington und im August in Berlin, schockieren. Doch es gibt gravierende Unterschiede.

Warum sind die Proteste vor dem Reichstagsgebäude im Sommer und die Erstürmung des Kapitols in Washington nicht vergleichbar?

In Berlin hatte sich eine Gruppe verschiedenster Richtungen versammelt – von friedlichen Demonstranten bis gewaltbereiten Rechtsextremisten. Die Gelegenheit, auf die Treppe des Reichstagsgebäudes zu stürmen, bot sich, als dort nur wenige Polizisten das Parlament sicherten. Der Aufruf zum Losrennen kam aus der Menge.

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In Washington hat der abgewählte Präsident Donald Trump seine Anhänger, darunter schwer bewaffnete Männer, regelrecht zur Erstürmung des Kongresses aufgehetzt. Das wäre so, als hätte Bundeskanzlerin Angela Merkel damals die Demonstranten ermutigt, zum Bundestag zu marschieren und den Schutz des Hohen Hauses zu verletzten.

Was macht die Bewegung in den USA aus?

Trump hatte im Wahlkampf an die Adresse gewaltbereiter Anhänger gesagt: „Haltet Euch zurück, aber haltet Euch bereit.“ Monatelang hat er den Amerikanern versucht einzutrichtern, dass eine Wahlniederlage nicht möglich sei. Bei einem Sieg des Herausforderers Joe Biden könne es sich nur um gestohlene Stimmen und eine manipulierte Wahl handeln.

Er hat damit früh eigene Unterstützer, viele von ihnen bewaffnet, mit Hass munitioniert. Durch seine demokratieverletzende Verweigerung, Bidens Wahlsieg anzuerkennen und für einen geordneten Übergang zu sorgen, wiegelte er wochenlang ultrarechte Gruppen wie die „Proud Boys“ auf.

Was ist die Besonderheit der Protestbewegung in Deutschland?

In Deutschland richten sich zahllose Proteste seit dem Frühjahr zumindest vordergründig gegen die Corona-Politik von Bund und Ländern und die damit verbundenen Einschränkungen. Die Demonstrationen entwickelten sich jedoch schnell zu einem Sammelbecken für Verschwörungsgläubige, auch Reichsbürger und andere Rechtsextreme waren vielerorts stark vertreten.

Diese Protestbewegung eint in weiten Teilen die Ablehnung des bestehenden politischen Systems, des parlamentarischen Prozesses und die absolute Feindschaft gegenüber der Bundesregierung.

Doch die Bewegung ist heterogen: Nicht alle Demonstranten hängen Verschwörungserzählungen an, nicht alle wollen die bestehende politische Ordnung abschaffen. Die Proteste geben jedoch auch radikalsten Positionen eine Bühne und kulminierten bereits mehrfach in Grenzüberschreitungen und Gewalt. Gemessen an den Zustimmungswerten Donald Trumps sind die selbsternannten Querdenker jedoch keine Massenbewegung.

Während die überwiegende Mehrheit der Deutschen die Corona-Maßnahmen unterstützt, vertreten sie nur eine kleine Minderheit. Daraus ergibt sich auch eine geringere Durchschlagskraft der radikaleren Elemente der Szene. Den gescheiterten Reichstagstreppestürmern mangelte es nicht am Willen zum Sturz des Systems – sehr wohl aber an Masse und Organisationsfähigkeit.

Auch fehlt ihnen im Vergleich zu ihren amerikanischen Geistesgeschwistern das verbindende Element, das die radikalsten Umstürzler zu dem Glauben verleitet, alles erreichen zu können: Unterstützung aus dem höchsten Amt im Staate.

Was waren die Beweggründe bei der Demonstration Ende August in Berlin?

Bei allen Unterschieden – auch der Vorfall am 29. August 2020 hatte mit Donald Trump zu tun. Auf einer Bühne vor dem Parlamentsgebäude erklärte eine Heilpraktikerin und Verschwörungsgläubige fälschlicherweise, der US-Präsident sei gerade in Berlin gelandet. „Wir haben fast gewonnen“ schrie sie anschließend, und gab das Startzeichen für die versuchte Erstürmung.

Für viele der Beteiligten und auch für einen Teil der Querdenken-Demonstranten ist Trump ein Held. Von ihm erhoffen sie sich die Befreiung – von den ungeliebten Corona-Beschränkungen und auch von der Bundesregierung und den gewählten Volksvertretern. Schon vorher am Tag hatten Reichsbürger und Anhänger der Qanon-Verschwörungsideologie vor den Botschaften der USA und Russlands demonstriert. Sie glauben, Deutschland sei noch immer von den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs besetzt, und diese könnten deshalb auch die Bundesregierung entmachten.

Das erklärte Ziel dieser Demonstranten ist ganz ähnlich wie am Mittwoch in den USA die Absetzung gewählter Politiker und damit ein Angriff auf die Demokratie selbst.

Welche internationale Außenwirkung hatte der versuchte Sturm auf das Reichstagsgebäude im August?

Der bis auf die Reichstagsstufen eskalierte Protest sorgte nicht nur in Deutschland für Aufsehen. Medien in der ganzen Welt berichteten über den außergewöhnlichen Vorgang in der deutschen Hauptstadt. Die „New York Times“ schrieb etwa, es sei bemerkenswert, dass „dieser Wutausbruch“ zu einer Zeit komme, „in der die Regierung von Bundeskanzlerin Angela Merkel ein hohes Maß an Vertrauen und Beliebtheit genießt und die große Mehrheit der Deutschen die Maßnahmen zur Virenbekämpfung gutheißt“. Viele internationale Medien legten ihren Fokus auf die Verurteilung des rechtsextremen Angriffs durch die deutsche Politik.

Doch auch in rechtsextremen Kreisen in den USA wurde die Aktion zum Teil interessiert aufgenommen. „Deutsche Patrioten versuchen, den Reichstag zu stürmen und fordern Freiheit vom Virus-Hoax“ lobte etwa die bekannte amerikanische Neonaziseite „Daily Stormer“.

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Überhaupt sind die Szenen der Verschwörungsideologen und Rechtsextremen längst globalisiert. Sie inspirieren und beeinflussen sich über Ländergrenzen und Kontinente hinweg. Das gilt besonders für rechtsextreme Gewalttäter und Terroristen, wie mehrere Anschläge der vergangenen Jahre gezeigt haben.

Wie reagiert die deutsche Verschwörungsszene auf die Erstürmung des Kapitols?

In den Gruppen und Kanälen deutscher Verschwörungsideologen dominieren seit Mittwochabend zwei Erzählungen: Viele Influencer der Verschwörungsszene und ihre Anhänger verbreiten die Falschbehauptung, die Gewalt im Kapitol sei nicht von Trump-Fans, sondern von getarnten Antifa-Anhängern und linken Black-Lives-Matter-Demonstranten ausgegangen.

Als vermeintliche Beweise sollen unter anderem Fotos von Beteiligten dienen, die im Internet zu Linken erklärt werden. Mehrere solcher Fotos zeigen jedoch tatsächlich namentlich bekannte Rechtsextreme und Anhänger der Qanon-Verschwörungsideologie.

Neben dieser reflexhaften Schuldabwehr wird die Gewalt von Washington jedoch vor allem gefeiert und verteidigt. Das sei kein Mob gewesen, sondern die Selbstverteidigung von Patrioten gegen einen angeblichen „Durchmarsch des Tiefen Staates“, schreibt etwa der Chefredakteur des rechtsextremen „Compact“-Magazins, Jürgen Elsässer. Und überhaupt habe es sich abgesehen von ein paar zerbrochenen Fenstern um „eine durchaus friedliche Aktion“ gehandelt.

Besonders viele Anhänger der Qanon-Verschwörungsideologie glauben, der Sturm auf das Kapitol sei Teil eines größeren Plans, mit dem Trump das Wahlergebnis doch noch umkehren und die Macht behalten wird. Ihr Glaube an den Erfolg Trumps scheint unerschütterlich. Mit jedem Rückschlag für Trump droht eine noch weitere Radikalisierung dieser Szene.

Die Gefahr durch weitere Gewalttaten durch Rechtsextreme und Verschwörungsideologen wird deshalb auch nach der Amtsübergabe an Joe Biden hoch bleiben – auch in Deutschland.