Köln – Als die Mannschaften am 12. Mai 1962 ins Berliner Olympiastadion einliefen, richtete der Stadionsprecher das Wort an jene, die nicht dabei sein konnten. „Wir gehören zusammen, ihr seid nicht vergessen“, schallte es aus den Lautsprechern im mit 82.000 Zuschauern gefüllten Rund. Seit August 1961 teilte eine Mauer die Stadt. Nun fand erstmals ein Endspiel um die deutsche Fußball-Meisterschaft im geteilten Berlin statt. Die Paarung lautete: 1. FC Köln gegen den 1. FC Nürnberg.
15.000 FC-Fans waren nach Berlin gereist. Die Durchfahrt der Sonderzüge durch die sowjetische Besatzungszone war nicht gestattet worden, an der innerdeutschen Grenze mussten die Fans in Busse umsteigen oder eben gleich mit dem Privatwagen fahren. Der 4:0-Sieg über Nürnberg vor 60 Jahren bedeutete einen Meilenstein in der Geschichte des 1. FC Köln. „Es war der Urknall“, sagt Karl-Heinz Thielen.
Thielen: „Ich war sauer, kein Tor geschossen zu haben“
Der mittlerweile 82-Jährige stand damals auf dem Platz, ein blonder Stürmer von 22 Jahren, der sich beim Termin mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ das Spiel noch einmal anschaut. Thielen hat nie ein besonderes Interesse am 62er-Finale entwickelt; schon am 12. Mai 1962 brauchte eine Weile, ehe er sich freuen konnte über das 4:0. „Weil ich so sauer war, kein Tor geschossen zu haben“, gesteht Thielen. Er lächelt, in den vergangenen 60 Jahren hat sich sein Ärger einigermaßen gelegt. Der Rodenkirchener war damals einer der besten Stürmer im Land, in den drei Endrundenspielen zuvor gegen Hamburg, Frankfurt und Pirmasens hatte er insgesamt sechs Tore geschossen. Doch beim historischen ersten Kölner Finalsieg ging er leer aus.
Die Partie beginnt ausgeglichen, obgleich früh zu sehen ist, mit welch einer Mannschaft die Kölner da angetreten sind: internationale Klasse auf allen Positionen. Karl-Heinz Schnellinger etwa, der linke Verteidiger. Alles, was er tut, ist die pure Eleganz. „Aber der Karl war auf dem Platz auch bösartig!“, sagt Thielen: „Der hat nicht umsonst so viele Länderspiele gemacht.“ Schnellinger wechselte später nach Italien, mit dem AC Mailand gewann er alle internationalen Titel. Ein Weltstar im FC-Trikot.
Hans Schäfer trifft zum 1:0 für den 1. FC Köln
Oder Leo Wilden, der im Sonnenschein dieses 12. Mai jeden Zweikampf gewinnt. Thielen war eng mit dem kürzlich verstorbenen Wilden befreundet, er konnte sich stets auf den Verteidiger verlassen, nur selten musste Thielen in der Defensive helfen. Und wenn doch, half ihm sein Tempo. „Ich hatte immer eine weiße Hose. Alle mussten grätschen, ich nicht. Weil ich so schnell war. Leo hat mich immer wegen meiner sauberen Hose aufgezogen.“
In der 22. Minute schießt Hans Schäfer das 1:0. Schäfer, damals bereits 34-Jähriger Kölner Held von Bern, seit 1948 beim FC. Schäfer bietet auch nach heutigen Maßstäben eine unglaubliche Leistung. Seine Antritte, die Abschlüsse – das Auge für die Pässe. Eine Gala. „Ich habe Schäfer selten so gesehen, die Länderspiele eingeschlossen. Mit solch einem Pensum, so geschickt – überall auftauchend“, schwärmte der Fernsehreporter.
„Hans Schäfer, der war der wichtigste“
Für Thielen ist die Lage eindeutig: „Wolfgang Overath war der beste, Heinz Flohe der talentierteste Spieler in der Geschichte des 1. FC Köln. Aber Hans Schäfer, der war der wichtigste“, sagt der spätere FC-Manager. Vor dem 2:0 ist es wieder Schäfer, der den Angriff dirigiert und Christian Müller in die Tiefe schickt, dessen Flanke Ernst-Günter Habig zum 2:0 per Kopf versenkt. „Da! Der Günter!“, sagt Thielen heiter. Klasse Vorarbeit von Müller, „ein toller Stürmer. Schönes Tor, gefällt mir heute noch“, sagt Thielen.
Die Partie ist mit dem zweiten Treffer entschieden, Nürnberg findet nicht statt. Von Thielen ist aber ebenfalls vergleichsweise wenig zu sehen. Der Spieler, der ein Jahr später beim 5:1 gegen den 1. FC Kaiserslautern alle fünf Kölner Tore schießen sollte und als einer der ganz großen Angreifer in die FC-Geschichte einging, fällt zwar auch gegen Nürnberg immer wieder mit seinen Tempodribblings auf. Doch die Nürnberger halten zumindest diesen Kölner halbwegs unter Kontrolle, wenngleich am Rand des Erlaubten.
„Dass der ein Tor im Endspiel schießt – das gab es im Grunde nicht“
Vor dem 3:0 fängt Thielens Freund Leo Wilden weit vor dem Kölner Tor den entscheidenden Ball ab. Habig spielt sich durch und erzielt sein zweites Tor. Das 4:0 wurmt Thielen, dabei war es ein fantastisches Tor: Fritz Pott, rechter Verteidiger der Kölner, läuft mit dem Ball am Fuß diagonal über das gesamte Feld und nimmt immer weiter Tempo auf, bis er nur noch Wabra im Nürnberger Tor vor sich hat und zum 4:0 trifft.
Thielen muss lachen, als er den Treffer 60 Jahre später noch einmal sieht. „Der Pott kommt einmal über die Mittellinie – und macht das Tor“, sagt er. Allerdings ist Thielen als erster Gratulant zur Stelle. „Ich habe wohl gesagt: Fritz, du Blödmann!“ sagt Thielen lachend, aber voller Respekt für seinen Kollegen: „Fritz war schnell – schnell und bösartig. Aber dass der ein Tor im Endspiel schießt. Das gab es im Grunde nicht.“
Der Kölner Jubel fällt verhalten aus
Als Schiedsrichter Dusch abpfeift, stürmen ein paar Kölner Fans auf den Rasen, fast alle tragen Schlips zum Anzug. Rasch wischt ein Betreuer den Spielern den Schweiß von der Stirn, richtet die Scheitel für das Siegerfoto. Thielen erinnert sich, dass Fans sogleich Hans Schäfer auf ihre Schultern hoben. Dass auch er durchs Stadion getragen wurde, hat er dagegen vergessen: „Das wusste ich gar nicht mehr. Ich weiß nur, dass ich sauer war, weil ich kein Tor geschossen habe.“
Der Kölner Jubel fällt verhalten aus. „Wir hatten jahrelang darauf gewartet. Aber als es dann soweit war, hatte sich gar nichts verändert. Man war Meister, aber uns ist erst viel später bewusst geworden, dass wir etwas Großes erreicht hatten. Für den Fußball jedenfalls“, beschreibt Thielen. Der Druck sei enorm gewesen, mit dieser Mannschaft und nach all den Siegen der Saison. Jeder hatte den Titel erwartet. „Aber man muss es dann auch machen. Es war auch eine Erlösung.“
Während der Ansprache des DFB-Präsidenten Peco Bauwens sieht man, wie Leo Wilden den Arm um seinen Freund Karl-Heinz Thielen gelegt hat, „da hat der Leo mich dann doch noch zum Lachen gebracht“, sagt Thielen über seinen Freund. Zlatko „Tschick“ Cajkovski zückt während der Rede sein Taschentuch. Weint er? Thielen ist sich nicht sicher. „Ich glaube eher, er hat sich die Nase geputzt. Er war keiner, der weint“, meint Thielen.
„Er hat diese Mannschaft so ans Laufen gebracht“
Dann erhält FC-Kapitän Schäfer die Meisterschale. Mit fester Stimme hört man Schäfer „Dankeschön!“ sagen, als Bauwens ihm die Trophäe überreicht. Schäfer reicht die Schale weiter. Standbild, schnelle Frage an Karl-Heinz Thielen: An wen reicht Schäfer die Schale weiter? „An den Torwart“, vermutet Thielen. Doch nach Schäfer ist schon der Trainer an der Reihe. „Das ist auch richtig so“, sagt Thielen, „er hat diese Mannschaft so ans Laufen gebracht, dass sie alles weggeputzt hat, was kam.“
Die Nacht verbrachten die Kölner in Berlin, am Sonntagmorgen flogen sie in die Heimat, um auf der gesperrten Autobahn in die Innenstadt zu fahren. In offenen VW-Cabriolets. Thielen hatte geglaubt, bei den Autos handele es sich um die Meisterprämie. Falsch. „Das war ein Reinfall“, sagt Thielen und lacht.
Zwei Jahre später wurde Thielen mit dem FC der erste Meister der neuen Bundesliga, 1978 war er Manager, als Köln das Double aus Meisterschaft und Pokal gewann. Bei allen Kölner Titeln war Thielen direkt beteiligt. Nur die legendäre Meisterschaft 1962 hat in seiner Erinnerung keinen Ehrenplatz. Weil ein Verteidiger das letzte Tor schoss: „Ich habe gedacht: In hundert Jahren werden die Leute sagen, die Kölner hatten eine gute Mannschaft. Aber Stürmer hatten die keine.“ Doch 60 Jahre hat die Erinnerung an die Kölner Meistermannschaft von 1962 schon mal überstanden – inklusive ihrer an diesem Tag torlosen Stürmer Müller und Thielen.