Leverkusen – Bayer 04 Leverkusen zeigt sportlich derzeit zwei Gesichter. Einem souveränen Auftaktsieg gegen Athlético Madrid in der Champions League stehen magere fünf Punkte und ein negatives Torverhältnis in der Bundesliga gegenüber – am achten Spieltag wartet nun der FC Bayern. Klubchef Fernando Carro spricht im Interview über Trainer Seoane, Bayers Saisonziele und die wichtige Rolle von Nationalspieler Florian Wirtz.
Herr Carro, hätten Sie sich nach der gelungenen Sommervorbereitung und vor dem ersten Pflichtspiel Ende Juli vorstellen können, dass Bayer 04 Leverkusen keine zwei Monate später in einer derart tiefen Krise steckt und Vieles hinterfragt werden muss?
Fernando Carro: Nein. Aber im Fußball ist auch nicht alles zu 100 Prozent zu erklären. Wir müssen Wege finden, um die Wahrscheinlichkeit für eine bessere Punkteausbeute zu erhöhen. Wir haben in der Klubführung gemeinsam diskutiert und analysiert – kritisch, aber auch zukunftsgerichtet. Es gibt Dinge, die man nicht mehr ändern kann. Wichtiger sind die Dinge, die wir gemeinsam angehen und verbessern können. Das tun wir.
Was Bayer 04 nicht geändert hat, ist die Besetzung der Trainer-Position. Gerardo Seoane bleibt trotz Krise im Amt. Was gibt Ihnen die Zuversicht, dass der Umschwung mit ihm gelingt?
Gerardo Seoane hat in seinem ersten Jahr in Leverkusen bewiesen, dass er ein exzellenter Trainer und Leader ist. Da haben auch die Ergebnisse gestimmt. Und in Entscheidungen rund um einen Trainer spielt natürlich eine große Rolle, wie die Ergebnisse zustande gekommen sind. Einzelne Resultate allein ändern erstmal nichts an der Qualität des Trainers. Bei uns fällt auf, dass die Zahl der individuellen Fehler nicht nur zugenommen hat, sondern auch zunehmend bestraft wird. Gleichzeitig fehlt uns in der Offensive die Effizienz der vergangenen Saison, nicht die Zahl der Chancen. Wir vertrauen voll auf Gerardo Seoanes Stärken und sind überzeugt, dass wir mit ihm und seinen Fähigkeiten den Turnaround schaffen.
Nach dem 1:1 gegen Bremen sprach Simon Rolfes von der „Intention“, mit Trainer Seoane ins Spiel bei den Bayern am 30. September zu gehen. Die volle Rückendeckung von Ihnen kam erst zwei Tage später. In der Zwischenzeit gab es die gemeinsame Analyse mit dem Coach?
Wie gesagt, wir diskutieren intern, wir analysieren und wir kommen am Ende zu einer Haltung, die alle guten Gewissens und im Sinne des Klubs tragen können. Wir sprechen grundsätzlich oft miteinander, derzeit eben noch etwas mehr.
Können Sie Argumente nennen, mit denen er die Vereinsführung davon überzeugen konnte, dass er nach wie vor der richtige Mann für den Job ist?
Simon Rolfes und ich wollten nach unserer Analyse sichergehen, dass sie mit der Bewertung von Gerardo Seoane übereinstimmt, dass wir die Dinge, gerade die die Zukunft betreffen, ähnlich sehen und dabei alle dieselbe Energie verspüren. Das war wichtig. Noch wichtiger ist allerdings, dass sich unsere gemeinsame Haltung und das Vertrauen in den kommenden Spielen in Ergebnissen niederschlägt.
Eine These ist, dass Bayer 04 am Trainer festhält, weil es keine Alternative gibt.
Das ist falsch.
Warum?
Als Fußballverein ist es eine unserer Kernkompetenzen, Spieler zu scouten. Wir haben für alle Positionen Listen mit Spielernamen. Und mit diesen Listen werden wir aktiv, wenn der Bedarf da ist. Für die Trainerposition gilt das natürlich auch. Bevor wir uns für Gerardo Seoane entschieden und ihn verpflichtet haben, haben wir viele Profile ausgewertet und mit vielen Kandidaten gesprochen. Es gibt einen Trainermarkt und es ist unsere grundsätzliche Pflicht, diesen zu kennen und Zugang zu haben. Aber wir halten an Gerardo Seoane fest, weil wir davon überzeugt sind, dass die Wende mit ihm gelingt. Und nicht, weil wir keine Alternative haben.
In der Theorie wäre die Länderspielpause ein guter Zeitpunkt gewesen, um einen neuen Trainer zu installieren. Nun kommt das Spiel am 30. September beim FC Bayern und anschließend viele englische Wochen. Wie viel Zeit hat Gerardo Seoane, um den Turnaround zu schaffen?
Wir brauchen in diesem Herbst möglichst frühe und deutliche Signale für eine Rückkehr zu Stabilität und Erfolg. Ohne Erfolge und Punkte geht es nicht. Ich sehe uns hier alle in der Verantwortung, Mannschaft, Trainer, Staff, den ganzen Verein. Jeder muss seine Aufgabe kennen und annehmen.
Gerardo Seoane steht mit seiner analytischen Art und seinem großen Stab von Experten und Assistenten für ein Konzept, für das sich Bayer 04 im Sommer 2020 entschieden hat. Hätte man einen Trainerwechsel vollzogen, hätte man sich dann von diesem Konzept verabschieden müssen?
Das sehe ich nicht so. Wir haben Gerardo Seoane aufgrund seiner Qualitäten geholt: zum Beispiel Führungsfähigkeit, taktische Variabilität und seiner Erfahrung in der Weiterentwicklung von jungen Spielern. Diese Stärken sehen wir heute noch genauso. Im Übrigen hat die Person Seoane keineswegs nur sachliche und analytische Züge. Er hat spanische Wurzeln, wie ich, das geht niemals ohne Emotionalität.
Wie wichtig sind für Sie Emotionen im Fußball und ihr Ausleben?
Das gehört für mich dazu, ich bin selbst sehr emotional und muss mich manchmal bremsen. Vielleicht bin ich da eher wie Rudi Völler. Simon Rolfes ist da etwas diplomatischer. Ich glaube, dass es für einen Klub wichtig ist, beides zu haben. Wenn alle nur emotional sind, ist es schlecht. Wenn keine Emotion da ist, ist es auch schlecht.
Vermissen Sie Rudi Völler in der aktuellen Situation als eine Art Schutzschild und gleichzeitig Lautsprecher?
Rudi ist oft im Stadion und als Ansprechpartner greifbar für uns. Ich glaube aber, wir sind durchaus in der Lage, der Situation auch in der neuen personellen Konstellation absolut gerecht zu werden.
Sind Sie zufrieden damit, wie es bislang übernommen wird?
Weder Simon noch ich können Rudi Völler ersetzen. Alles hat seine Zeit. Simon Rolfes und ich stehen nun in der Verantwortung und nehmen unsere Rollen an, aber auf unsere Art.
Wie ist der Austausch mit Werner Wenning, dem Vorsitzenden des Gesellschafterausschusses?
Wir sind regelmäßig im Austausch mit ihm, auch in der Analyse der vergangenen Tage hatten wir täglich Kontakt. Er ist als Vorsitzender des Gesellschafterausschusses selbstverständlich in alle wichtigen Diskussionen und Entscheidungen involviert. Natürlich wünscht er sich, dass wir mehr Punkte hätten.
Fernando Carro über Saisonziele in Leverkusen
Sind Bayer 04 Leverkusens Saisonziele, mit Ausnahme des DFB-Pokals, noch aktuell?
Es sind erst sieben Liga-Spiele absolviert. Natürlich ist es schwieriger geworden. Aber ich kann mich an die Saison 2018/19 erinnern, als wir in der Rückrunde schon zehn Punkte hinter Gladbach waren. Da hatte ich die Champions League schon fast abgehakt – und wir haben den Rückstand in sechs, sieben Spielen noch aufgeholt. Es ist noch alles möglich, aber wir dürfen nicht arrogant sein und brauchen eine kurzfristige Entwicklung, die diese Gedanken rechtfertigt.
Denken Sie aktuell besonders oft an die Fußball-Phrase „Wenn die Bayern straucheln, musst du da sein“?
Ich denke gerade nicht an Bayern und eine mögliche Titeljagd, das wäre vermessen. Ich denke eher an die europäischen Plätze. Ein wichtiger Faktor für uns ist der Uefa-Fünfjahres-Klubkoeffizient, in dem die Auftritte im Europapokal maßgeblich sind. In dieser Saison fällt die punktlose Saison 2017/18 raus, in der wir nicht international gespielt haben. Darum wird es mit dem Koeffizienten nach oben gehen. Ich will nicht durch eine verpatzte Saison 22/23 gleich wieder eine neue punktlose Spielzeit mitschleppen.
Machen Sie sich keine Sorgen, dass sich die Krise von Bayer 04 über die ganze Saison hinziehen könnte?
Nein, so negativ bin ich nicht. Gleichzeitig müssen wir aber wachsam sein, die aktuelle Situation sehr ernst- und vor allem annehmen.
Ist es in Ihrer Rolle im Vorstand der europäischen Klubvereinigung ECA ein gedanklicher Spagat zwischen dem großen Europapokal und dem aktuell schwierigen Alltag in der Bundesliga?
Nein, das kriege ich hin. Durch unseren Erfolg gegen Atlético haben wir auf europäischer Ebene unsere gute Reputation eher noch gestärkt – unabhängig von den fünf Punkten in der Liga. In Deutschland guckt man auf die Bundesliga, europäisch auf die Champions League. Natürlich müssen wir unsere Hausaufgaben in der Liga machen. Es ist sehr wichtig, dass wir jedes Jahr international spielen.
Fernando Carro über Florian Wirtz und fehlende Neuverpflichtungen
So eine Leistung wie beim 2:0 gegen Atlético spricht für das Leistungsvermögen des Kaders. Für was spricht, was in der Bundesliga passiert?
Unter anderem dafür, dass uns ein Spieler wie Florian Wirtz extrem fehlt. Natürlich haben wir auch mit ihm Spiele verloren und ohne ihn Spiele gewonnen und am Ende der letzten Saison die Champions League erreicht. Für die Konstanz in den Leistungen und damit uns individuelle Fehler nicht ständig Punkte kosten, ist ein Regisseur wie Florian Wirtz mit seiner Kreativität allerdings sehr wichtig. Er macht auch seine Mitspieler besser. Das fehlt uns.
Wie geht es ihm nach seinem Kreuzbandriss?
Gut. Er liegt im Plan. Ich hoffe, dass er im Oktober wieder ins Mannschaftstraining einsteigen kann, Stück für Stück. Aber wir geben ihm die Zeit, die er braucht – viele Spiele wird er bis zum Winter sicher nicht mehr machen.
Wie stehen die Chancen für die Teilnahme bei der WM in Katar?
Das kann ich nicht abschätzen.
Wie bewerten Sie die Situation von Lukas Hradecky? Bei ihm hatten sich zuletzt die Fehler gehäuft.
Fehler beim Torwart werden meistens sofort bestraft, Fehler vorne beim Stürmer nicht. Das ist das Leben des Torwarts. Natürlich wünschen wir uns auch von Lukas wieder mehr Stabilität. Aber wir haben volles Vertrauen in ihn. Er ist ein exzellenter Torwart, ein hervorragender Kapitän und Repräsentant.
Die Sommer-Transferperiode ist nicht so gelaufen, wie der Verein es sich vorgestellt hat. Zwar wurden die Verträge mit Patrik Schick und Florian Wirtz verlängert, doch viel Spielraum für Neuverpflichtungen war nicht mehr da.
Wir haben vorrangig darauf gesetzt, die Verträge von wichtigen Spielern zu verlängern, was uns auch gelungen ist. Uns ist es aber nicht gelungen, finanzielle Mittel durch Spielerverkäufe freizusetzen, um die Anzahl an Spielern zu verpflichten, die wir gerne geholt hätten.
Nun gibt es Profis im Kader, mit denen der Verein eigentlich nicht mehr plant.
Wir dürfen nicht vergessen, dass wir in Florian Wirtz, Amin Adli und Karim Bellarabi drei wichtige Akteure seit mehr oder weniger mehreren Monaten nicht oder kaum zur Verfügung haben. In der Nachbetrachtung muss man aber unabhängig davon eingestehen, dass ein bisschen frisches Blut dem Wettbewerb im Kader nicht geschadet hätte. Aber das Problem ist nicht, dass wir Profis unter Vertrag haben, mit denen wir nicht mehr geplant haben. Das Problem ist eher, dass wir nicht genügend neue Spieler haben, die für Wettbewerb sorgen. Am Saisonende laufen einige Verträge aus, damit können wir jetzt schon planen…
… aber sie bringen keine Ablöse.
Das ist eine Herausforderung.
Und die Millionen des FC Chelsea für Kai Havertz liegen auch nicht noch auf irgendeinem Konto.
Die Ablöse von Kai Havertz hat uns geholfen, einigermaßen unbeschadet durch die Corona-Krise der letzten zwei Jahre zu kommen.
Laut Medienberichten aus England ist Leverkusens Manager Tim Steidten ein Kandidat auf den Posten des Sportdirektors bei Chelsea.
Daran sieht man mal wieder, dass Medienberichte gelegentlich nur heiße Luft sind. Mit uns hat niemand gesprochen.
Das Gespräch führten Frank Nägele und Christian Krämer