Der Mensch ist eines der langsamsten Wesen auf dem Planeten – vielleicht ist er deswegen so erpicht darauf, sich schnell fortzubewegen. Dem Düsenjet folgte die Concorde, dem D-Zug der ICE. Und auch auf der Straße möchten viele Autofahrer nur aufs Gaspedal treten. Warum bloß?
Im Rausch der GeschwindigkeitWarum wir uns immer schneller fortbewegen
Die Isle of Man ist ein überaus beschaulicher Teil der britischen Inseln. Sie liegt etwas abgeschieden inmitten der Irischen See. Der Alltag in der Inselhauptstadt Douglas gleicht oft genug dem einer durchschnittlichen Kleinstadt irgendwo auf der Welt. Und die Verkehrsnachrichten im örtlichen Radiosender Three FM wären in anderen Hauptstädten wie Berlin, London oder Paris vermutlich keine Erwähnung wert. So belanglos wirken sie.
Die Insel, ein Steuerparadies, gilt als ein vergleichsweise abgeschiedener Ort. Entschleunigung ist ein Wort, das manche gern benutzen, wenn es um diesen Teil der Welt geht. Doch das trifft nur bedingt zu.
Einmal im Jahr ist die Isle of Man Treffpunkt von Geschwindigkeitsfanatikern aus aller Welt – während der Tourist Trophy (TT), wie erst kürzlich Anfang Juni. Dieses älteste und gefährlichste Motorradrennen der Welt zieht Rennfahrer geradezu magisch an. Bereits 1907 wurde es zum ersten Mal ausgetragen, und genau genommen eher zufällig hier: Anders als im Vereinigten Königreich galten auf der Isle of Man nie Geschwindigkeitsbegrenzungen, und so konnten reguläre Straßen für das Rennen genutzt werden. So ist es bis heute.
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„Die Ideallinie um zehn Zentimeter zu verfehlen kann den Weg ins Jenseits bedeuten“, beschrieb der deutsche Motorradrennfahrer Siegfried Schauzu die TT einmal in einem Interview. Er gewann insgesamt neunmal in einzelnen Kategorien – und er überlebte, was bei Weitem nicht selbstverständlich ist. In der Geschichte der Isle of Man TT starben bis heute insgesamt knapp 270 Teilnehmer. Warum nur tut man sich dieses Risiko an? Weil der Mensch nach Geschwindigkeit strebt?
Selbst eine Robbe ist schneller als der schnellste Mensch
Der Jamaikaner Usain Bolt hält bis heute den Weltrekord beim 100-Meter-Sprint. Er benötigte dafür 2009 in Berlin 9,58 Sekunden bei einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 37,58 Kilometer pro Stunde. Klingt unglaublich schnell – beim Spazierengehen schaffen wir im Schnitt gerade mal fünf Kilometer pro Stunde. Doch im Vergleich zur Tierwelt sind auch die höchsten menschlichen Geschwindigkeiten eher niedrig.
Ein Wanderfalke bringt es im Sturzflug auf 322 Kilometer pro Stunde, ein Hase auf bis zu 70 km/h, selbst eine Robbe ist mit 40 km/h schneller als der schnellste Mensch. Es liegt also nah, sich technischer Hilfsmittel zu bedienen, um diesen Nachteil ausgleichen zu können.
Fahrt in den Urlaub: Rasen, um sich zu erholen
In diesen Wochen treten viele Menschen aufs Gaspedal ihres Autos, weil sie möglichst schnell in den Urlaub wollen. So paradox es klingt: Sie rasen, um sich anschließend zu erholen. Es gibt aber zugleich viele Autofahrerinnen und Autofahrer, die schnell fahren, nur weil es ihnen Spaß macht. In der Psychologie unterscheidet man zwischen der extrinsischen und der intrinsischen Motivation. In diesem Fall: dem Verlangen, schnell von A nach B zu kommen, und dem schnellen Fahren zum Vergnügen.
„Das Auto dient bei einigen als Kraftwerkzeug, der Verlängerung der eigenen Kräfte“, verdeutlicht es Prof. Arnd Engeln, Diplompädagoge und Psychologe an der Hochschule der Medien in Stuttgart. Wichtig sei für diese Menschen das sogenannte Flow-Erleben, jener Moment, in dem sie nicht mehr reflektieren, nicht mehr über das Morgen nachdenken – sondern nur noch sie selbst seien. Die Gefahr des schnellen Fahrens sei in diesem Fall das Mittel, um zu diesem Gefühl zu gelangen.
„Das lässt sich auch beim Tanzen oder einigen Risikosportarten erleben“, sagt Engeln. Dies lasse sich aus der Evolution heraus erklären: Früher hatten die Menschen dieses Gefühl bei der Jagd. „Wir haben ein Grundbedürfnis nach Erregung, das wir beispielsweise über riskante Handlungen, die anderen Angst machen, ausleben können“, erläutert Engeln.
Schallmauer durchbrochen
Verglichen mit Tieren mag der Mensch eines der langsamsten Lebewesen auf dem Planeten sein. Doch er hat früh damit begonnen, dieses Manko auszugleichen. Er entdeckte Pferde zur schnelleren Fortbewegung. Er entwickelte Kutschen, Autos und die Eisenbahn, später das Flugzeug. Schließlich merkte er, dass all diese Fortbewegungsmittel noch viel schneller sein können, wenn man sie technisch etwas verändert. Auf die Dampflok folgten Diesel- und Elektrozug, dann kamen Sprinter wie der ICE, den Propellerflugzeugen folgte der Düsenjet. Und irgendwann durchbrachen von Menschen gebaute Maschinen sogar die Schallmauer.
1969 revolutionierte die Concorde die Luftfahrt. Das erste Überschallpassagierflugzeug der Welt konnte mit einer Reisegeschwindigkeit von Mach 2,02 (2179 Kilometer pro Stunde) fliegen. Der Sänger Phil Collins trat 1985 mit ihrer Hilfe bei den parallel stattfindenden Live-Aid-Konzerten sowohl in London als auch in Philadelphia auf. Für die Atlantiküberquerung benötigte die Maschine nur knapp drei Stunden.
Die Concorde war jedoch auch ein gutes Beispiel dafür, dass sich Schnelligkeit nicht immer auszahlt: Lediglich die damaligen Staatsairlines Air France und British Airways nahmen sie in ihre Flotten auf – alle anderen Fluggesellschaften winkten ab. Zu hoch war der Spritverbrauch, zu unrentabel der Betrieb, zudem durfte die Schallmauer wegen des damit verbundenen Lärms ausschließlich über dem offenen Meer durchbrochen werden.
„Boom Overture“ soll zum Ende dieses Jahrzehnts abheben
Nach dem schweren Unglück am 25. Juli 2000 in Paris schien das Ende besiegelt: Damals fing Air-France-Flug 4590 kurz nach dem Start Feuer und stürzte ab. Sämtliche 109 Insassen sowie vier Menschen am Boden kamen ums Leben. Immer weniger Passagiere trauten der Technik daraufhin. Drei Jahre später war Schluss mit dem Linienbetrieb.
Vorbei war der Traum vom Überschallflug indes nicht. Das US-Unternehmen Boom Technology arbeitet an einem Nachfolger der Concorde. Unter dem Projektnamen „Boom Overture“ soll er bis zum Ende dieses Jahrzehnts abheben – mit etwas weniger Sitzen, etwas weniger Maximalgeschwindigkeit und vor allem mit CO2-neutralem Treibstoff. Vorbestellungen von großen Airlines aus den USA und Japan gibt es nach Unternehmensangaben bereits.
Tempolimit: Stimmung könnte sich wandeln
Doch nicht nur in der Luft sind wir darauf bedacht, schnell von A nach B zu gelangen – auch auf der Straße und Schiene. Mit dem 49-Euro-Ticket kann man derzeit in Deutschland per Regionalzug auch entferntere Städte so günstig erreichen wie lange nicht. Dennoch sind die deutlich teureren ICE der Bahn nach wie vor voll. Denn sie sind fast immer deutlich schneller als ein Regionalexpress.
Dass schnelles Fahren mit dem Auto auch mehr Emissionen verursacht als langsames, ist nicht erst seit den Protesten von Fridays for Future bekannt. Und in den weitaus meisten Ländern gelten auf Autobahnen schon lange Geschwindigkeitsbegrenzungen: Unter anderem in Frankreich, Italien und Dänemark darf maximal 130 Kilometer pro Stunde gefahren werden, in Großbritannien sogar nur 70 Meilen (113 Kilometer).
Nur auf deutschen Autobahnen ist – wie auf den Straßen der Isle of Man – die Geschwindigkeitsbegrenzung streckenweise komplett aufgehoben. Der Versuch einzelner Parteien, dies zu ändern, ist mindestens so alt wie der ICE. Durchzusetzen hat es bislang noch niemand vermocht. Dabei scheint sich die Stimmung zumindest dezent zu wandeln.
In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov aus dem Frühjahr 2022 standen 57 Prozent der Befragten einem Tempolimit von 130 Stundenkilometern auf Autobahnen positiv gegenüber. Nur 33 Prozent waren dagegen, 10 Prozent unentschlossen. Bedacht werden muss dabei jedoch, dass die Umfrage in einer von steigenden Benzinpreisen geprägten Zeit stattfand.
Anders sieht es beim Ortsverkehr aus: Welches Tempolimit soll in deutschen Städten die Regel sein, wollte der ADAC zu Beginn dieses Jahres in einer Umfrage wissen. Zwei Drittel (66 Prozent) der Befragten waren für die Beibehaltung von 50 Kilometer pro Stunde mit örtlich möglichem niedrigerem Tempolimit. Nur 29 Prozent wünschten sich eine generelle Begrenzung auf 30 km/h.
Der Historiker und Volkswirt Prof. Peter Borscheid sieht eine enge Verbindung zwischen dem Drang des Menschen, immer schneller zu werden, und der Industrialisierung. „Bis ins Industriezeitalter ließen sich die Menschen von der Natur den Lebens- und Arbeitsrhythmus diktieren“, schreibt er als einer der Autoren des gerade erschienenen Buches „Tempo. Tempo! Tempo? Eine Geschichte der Geschwindigkeit“ (Nünnerich-Asmus-Verlag, herausgegeben von Katja Lembke und Lothar Meyer-Mertel). So sei die Architektur der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Stadt eine in Stein gemeißelte Langsamkeit gewesen. „Sie bremste mit ihren verwinkelten Gassen, dicht zusammengedrängten Häusern, Stadtmauern und nachts verschlossenen Stadttoren jede Geschwindigkeit ab.“
Das Buch ergänzt eine gleichnamige Ausstellung, die zurzeit parallel in drei niedersächsischen Museen zu sehen ist, dem Landesmuseum Hannover, dem Kunstmuseum Schloss Derneburg und dem Automuseum PS-Speicher in Einbeck. „Dem stetig gesteigerten Tempo passte sich ein Großteil der Menschen immer wieder an“, schreibt Borscheid, „wenn auch das Tempovirus von Anfang an viele krank machte und hilflos zurückließ.“
Auch auf der Isle of Man hält man an der Tourist Trophy fest. Die Daten für 2024 sind bereits beschlossen – die Veranstalter machen Tempo. (RND)
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