Wieder endet ein Jahr, das wenig Anlass für Begeisterung bot: Krieg, Krisen, Terror und Inflation prägten 2023. Doch unser Kolumnist Imre Grimm hat sich fest vorgenommen, seine Zuversicht nicht aufzugeben. 2024 kann nur besser werden. Ein Abschiedsbrief.
Liebes Jahr …Die Zuversicht nicht aufgeben – ein Abschiedsbrief an 2023
Liebes Jahr 2023,
am Neujahrsmorgen, als Du gerade zehn Minuten alt warst, stand ich auf der Straße, eine Wunderkerze in der Hand, und beschloss, Dir eine Chance zu geben.
Es konnte ja nicht so weitergehen wie mit Deinen Jahresgeschwistern zuvor. Erst eine globale Seuche. Dann ein blutiger Krieg in Europa. Populisten auf dem Vormarsch, die die allgemeine Verunsicherung eiskalt für sich nutzten. Inflation. Eine Regierung in der Dauerkrise. Es musste doch aufwärts gehen, irgendwann, dachte ich.
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Also nahm ich Dich innerlich in die Arme, denn Menschen sind treuherzige, naive, hoffnungsbetrunkene Wesen. Wir vergessen schnell, was war. Und wir wissen naturgemäß nicht, was kommt. Darum leben wir in einer Mischung aus nostalgischer Verklärung und gegenwärtiger Weinerlichkeit. Und reden uns – entgegen aller Erfahrung – sektbeseelt ein, dass das Jahr, das vor uns liegt wie weißes Papier, rein und schön bleiben könnte. Und das, obwohl schon so viele Jahre als blütenreine Säuglinge begannen und am 31. Dezember als vom Menschen runtergerockte Greise zurück in den Fluss des Lebens stiegen – wie in Eduard Mörikes wunderschöner Geschichte „Der alte Silvester und das Jahrkind“.
Heute sind wir schlauer, was Dich angeht, 2023. Auch Du bist nicht rein und schön geblieben. Im Gegenteil. Du hast Dich nahtlos eingereiht in die Kette anstrengender Jahre vor Dir.
Die großen Aufreger, die Dich prägten, waren fast alle tragisch oder traurig. Von kleinen Wirrnissen wie dem kaputten Regierungsjet der Flugbereitschaft als Sinnbild für ein reparaturbedürftiges Deutschland bis zum barbarischen Terror der Hamas in Israel und dem neuen, blutigen Auflodern des Nahostkonflikts. Von der unseligen Debatte um Hubert Aiwangers antisemitisches Flugblatt über Gil Ofarims verheerend wirkenden Lügenmärchen über seine Davidsternkette bis hin zum furchtbar gegenwärtigen Antisemitismus, der dazu führt, dass jüdische Menschen in Deutschland wieder ihre Klingelschilder abkleben, damit niemand sich daran stört, dass sie „Goldstein“ oder „Rosenberg“ heißen.
Liebes 2023, danke für gar nichts! Du hast die Zeiten nicht aufgehellt. Symbolisch für die allgemeine moralische Verwirrung war der Untergang des Tauchboots „Titan“ am Wrack der „Titanic“: Während hunderte Geflüchtete im Mittelmeer ertranken, fieberte die Welt mit im Drama um fünf Abenteurer in einem zusammengeschusterten Do-it-yourself-U-Boot. Warum diese Bigotterie? Weil Einzelschicksale weniger abstrakt sind als Massenschicksale.
Und das Bunte? Das vermeintlich Leichte? Nicht mal die Krönung von Charles III. im Mai bot ein bisschen eskapistische Linderung. Denn dieser koffeinfreie König, so langweilig wie ein Mensch gewordener Fünf-Uhr-Tee, ist kaum geeignet, royale Märchensehnsüchte zu bedienen. Im Sommer hoffte ich kurz, die Fußball-Weltmeisterschaft der Frauen könnte ein bisschen erhellende Freude stiften – dann flogen die deutschen Kickerinnen in der Vorrunde raus. Luxussorgen, gewiss. Anderswo auf der Welt gibt es echte Probleme. Aber dass nicht mal mehr der Fußball als zerstreuendes Vergnügen taugt, irritiert die Fußballnation Deutschland dann doch massiv.
Ein paar Große der Entertainmentzunft nahmen ihren (vorläufigen) Abschied – von Elton John bis Thomas Gottschalk, von Eurovision-Kommentator Peter Urban bis Michael Caine. Ein anderer geriet – sicher nicht völlig schuldlos – in einen Strudel aus Vorwürfen und Gerüchten, die am Ende nicht in ein juristisches, aber in ein moralisches Urteil mündeten: Rammstein-Frontmann Till Lindemann. Die „Row Zero“ taugt nicht mehr als Selbstbedienungsladen für vermeintlich sakrosankte Rockstars. Und einige Legenden verabschiedeten sich für immer: Jeff Beck, Gina Lollobrigida, Matthew Perry, Martin Walser, Harry Belafonte, Sinéad O‘Connor, Pogues-Sänger Shane MacGowan.
Es erscheint mir passend, 2023, dass der wärmste und tröstendste kulturelle Moment, den Du geliefert hast, schwelgend-nostalgisch an ganz andere Zeiten anknüpfte: Es sind die vier Minuten und acht Sekunden des „letzten“, sentimental betitelten Beatles-Songs „Now And Then“. Keine Weltkomposition, gewiss, aber ein hübscher Ohrwurm, geboren in (vermeintlich) besseren Zeiten. Unwillkürlich fragt man sich, was John Lennon wohl zu unserer Gegenwart gesagt hätte.
Angesichts Deiner Trostlosigkeit, liebes Jahr 2023, ist es ja kein Wunder, dass viele von uns ins Private flüchten, dass sie Hochzeiten, Geburtstage, Partys und Familienfeste zelebrieren wie lange nicht. Du hast eben jede Menge Anlass für die Flucht in den knallbunten Wahnsinn geboten. Davon zeugt nicht nur der unfassbar erfolgreiche „Barbie“-Film, der wie ein pinkfarbener Kometenschweif um den Planeten wirbelte. Bei Tiktok kamen Tipps, wie sich mit Bademantelgürteln oder Socken und ohne Heißstäbe Locken zaubern lassen, unter dem Hashtag #HeatlessCurls auf mehr als acht Milliarden (!) Aufrufe. Wer schön sein will, muss nicht leiden. Und wer an der Welt leidet, will wenigstens schön sein.
Zuversichtlich zu bleiben ist nicht ganz einfach in den Zwanzigerjahren dieses Jahrhunderts. Ich will es trotzdem weiter versuchen. In Deinen letzten Minuten, liebes 2023, werde ich die Gläser füllen, die Sekunden rückwärts zählen und tief im Innern hoffen, dass 2024 meinen Optimismus nicht Lügen strafen wird.
Vielleicht kannst Du, wenn Ihr zwei um Mitternacht abklatscht, Deinem Nachfolger gut zureden. Wir haben es verdient, dass nun mal ein Jahr folgt, dass der Liebe etwas mehr Raum gibt.
Mach‘s gut,
Dein Imre Grimm
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