Köln – Wenn sich ab Montag, 12. März, zum vierten Mal ein Gericht mit dem tödlichen Raserunfall vom Auenweg aus dem Jahr 2015 beschäftigt, geht es nur noch um eine einzige Frage: Bewährung oder nicht?
Die Richter der 3. Großen Strafkammer müssen entscheiden, ob Erkan F. (25) und Firat M. (24) ihre Haftstrafen von zwei Jahren beziehungsweise einem Jahr und neun Monaten im Gefängnis verbüßen müssen – oder ob sie auf Bewährung in Freiheit bleiben dürfen, so wie es eine andere Kammer des Kölner Landgerichts im April 2016 entschieden hatte.
Bewährungsstrafen sind „Schlag ins Gesicht“
Rechtsanwalt Nikolaos Gazeas, der in dem auf drei Tage angesetzten Revisionsprozess die Eltern der getöteten Studentin Miriam Scheidel vertritt, hat eine klare Meinung: „Die milden Bewährungsstrafen sind ein Schlag ins Gesicht für die Eltern und den Bruder von Miriam gewesen, sie haben aber auch das Vertrauen der Bevölkerung in eine gerechte Justiz massiv erschüttert“, sagt Gazeas. „Mit einer gerechten Strafe, wie das Gesetz sie verlangt, hat das nichts mehr zu tun.“
Der Prozess fällt in eine Zeit, in der intensiv wie nie über angemessene Strafen debattiert wird für zumeist junge Autofahrer, die in halsbrecherischer Manier umher rasen, sich illegale Wettrennen liefern und andere Menschen in Lebensgefahr bringen oder sogar töten. Die Tendenz geht klar in Richtung härtere Strafen. Auch das Gesetz wurde dahingehend verschärft.
Besonderes Aufsehen erregte ein Fall in Berlin: Im Februar 2017 verurteilte ein Gericht in der Hauptstadt zwei Raser erstmals wegen Mordes. Der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe hat das Urteil kürzlich wegen Fehlern in der Urteilsbegründung aufgehoben und an das Landgericht zurückverwiesen. Auch die Staatsanwaltschaft in Mönchengladbach hat einen Mann wegen Mordes angeklagt, weil er bei einem Rennen einen Fußgänger überfahren haben soll.
Richter zeigten sich milde gegenüber den Rasern
Üblich in solchen Fällen waren bislang eher Anklagen und Verurteilungen wegen fahrlässiger Tötung. So auch im Fall Auenweg. Das Kölner Landgericht hatte 2016 zwar festgestellt, dass Erkan F. und Firat M. an jenem Abend im April 2015 bewusst war, dass sie mit ihrer riskanten Fahrweise andere gefährdeten. Einen Vorsatz sahen die Richter jedoch nicht; vielmehr hätten beide in Überschätzung ihrer Fähigkeiten darauf vertraut, dass schon nichts passieren werde.
Die Richter stellten beiden Angeklagten eine günstige Sozialprognose. Sie seien nicht (Firat M.) oder nur geringfügig (Erkan F.) vorbestraft, lebten in geordneten Verhältnissen, Erkan F. habe glaubhaft Reue gezeigt, beide seien durch das hohe mediale Interesse stark beeinträchtigt. Die Folge: Die Haftstrafen wurden zur Bewährung ausgesetzt.
Die Staatsanwaltschaft ging in Revision, bemängelte die ihrer Auffassung nach zu niedrigen Strafen und deren Aussetzung zur Bewährung. Der BGH hob das Urteil im Juli 2017 auf – allerdings nur in Bezug auf die Bewährung. Und nur darüber wird nun neu verhandelt. Die Höhe der Haftstrafe, der genaue Unfallhergang, die Schuldfrage – all das steht nicht mehr zur Disposition.
Eigentlich hätte die Neuauflage des Revisionsprozesses vor dem Kölner Landgericht schon im Dezember stattfinden sollen, aber die Verhandlung war nach dem ersten Tag abgebrochen worden: Einer der Schöffen hatte eigene Kontakte in die Raserszene eingeräumt. Es bestand der Verdacht der Befangenheit. Beide Schöffen wurden ausgetauscht, am Montag um 9.15 Uhr beginnt das Verfahren zum zweiten Mal.
„Bewusste Gefahrschaffung“ oder „ungeplantes Fahrlässigkeitsdelikt“?
Zwei wesentliche Aspekte hatte der BGH am erstinstanzlichen Urteil bemängelt: Zum einen habe das Landgericht die Tat als „ungeplantes Fahrlässigkeitsdelikt“ und „spontanes Fehlversagen“ eingestuft – tatsächlich aber handele es sich um eine „bewusste Gefahrschaffung“ durch die Angeklagten, die auch kurz vor dem Unfall „äußerst aggressiv“ gefahren seien und gegen das Rennverbot verstoßen hätten – das gebe der Tat ihr „wesentliches Gepräge“ und dürfe bei der Bewährungsentscheidung nicht außer Acht bleiben, urteilten die obersten Richter in Karlsruhe.
Zum anderen habe das Landgericht sich nicht ausreichend mit der Frage befasst, welche Auswirkungen das Urteil auf das Rechtsempfinden der Bevölkerung habe, schrieb der BGH. Das Landgericht selbst habe eine Häufung von Raserunfällen mit tödlichem Ausgang in Köln und anderswo festgestellt; da liege es nahe, so der BGH, dass die Öffentlichkeit Bewährungsstrafen für die beiden Angeklagten als „ungerechtfertigtes Zurückweichen vor der Kriminalität“ ansehen könnte.
Für Anwalt Gazeas ist der Fall Auenweg ein „Paradebeispiel für ein unsicheres Zurückweichen“ des Staates vor dem Verbrechen, sollten die Angeklagten nicht ins Gefängnis müssen. „Nennen Sie mir außerhalb der Raserszene einen Menschen, dem eine Bewährungsstrafe nicht völlig unverständlich erscheint“, sagt der Jurist, der auch an der Kölner Universität lehrt, dort, wo auch Miriam Scheidel studierte.
Miriam Scheidel war mit dem Fahrrad unterwegs
An jenem frühen Abend im April 2015 war die 19-Jährige auf dem Fahrrad unterwegs von der Uni nach Hause. Sie fuhr auf dem Radweg des Auenwegs, als ihr Erkan F. im BMW und Firat M. in einem Mercedes Cabrio entgegen kamen. Stoßstange an Stoßstange, der BMW vorne. Mit knapp hundert Kilometern pro Stunde, wo Tempo 50 erlaubt war, ging es in eine langgezogene Linkskurve. An deren Ende geriet der BMW ins Schlingern, schrammte rechts gegen den Bordstein, brach aus, schlitterte über die gesamte Fahrbahn nach links in den Gegenverkehr und prallte auf dem Radweg gegen Miriam Scheidel. Sie starb Tage später im Krankenhaus.
Ihre Eltern und der Bruder sind bis heute schwer betroffen. Mittlerweile spricht die Mutter im Polizei-Präventionsprojekt „Crash Kurs“ vor Schülern über den Unfalltod ihrer Tochter. „Gefühlsmäßig bin ich noch im totalen Durcheinander“, sagt Marita Scheidel. „Man hat keinen Einfluss darauf, was mit einem passiert.“ Mit den Vorträgen, sagt sie, wolle sie auch ein Stück Kontrolle zurückgewinnen.