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Kommentare in sozialen Netzwerken
Muss ich eigentlich immer zu allem eine Meinung haben?

Ein Kommentar von
Lesezeit 3 Minuten
Luisa Neubauer und Greta Thunberg protestieren im von Klimaaktivisten besetzten Braunkohleort Lützerath.

Viel Hass in den Sozialen Medien müssen die Klimaaktivistinnen Luisa Neubauer (r) und Greta Thunberg (2.v.r) ertragen.

Egal ob Feuerwerk, Klimaschutz oder der Ukraine-Krieg – die Sozialen Medien belohnen mit ihren Algorithmen Extrem-Positionen. Unentschlossene wie unsere Autorin fühlen sich da völlig fremd.

Das Jahr ist ja noch nicht allzu alt, aber ich war schon am ersten Januar um eine Erkenntnis reicher: Viele Menschen haben eine Meinung zu Feuerwerk. Und ich zähle nicht dazu. Je greller und je extremer, desto besser läuft es bekanntlich in den Sozialen Medien. Aber was, wenn man - wie ich - gar keine Meinung hat, geschweige denn eine extreme? Die Debatte mit dem Feuerwerk kann man ja noch unauffällig aussitzen, zumindest bis zum nächsten Silvester. Funktioniert leider nicht beim Klimawandel und dem Ukraine-Krieg.

Zum Beispiel Lützerath: Protestieren da jetzt nur Verantwortungslose, die unsere demokratische Grundordnung nicht respektieren? Immerhin gibt es einen Gerichtsbeschluss: RWE darf die Kohle abbaggern. Punkt. Ohne Kompromisse geht es eben nicht in der Politik und alles ging seinen bürokratischen und demokratischen Weg. Diese „Lützi“-Protest-Baumhaus-Folklore ist auch nicht so mein Stil. Außerdem finde ich es ganz schön, wenn im Winter die Wohnung warm ist.

Dann wäre die Sache ja geklärt. Nur... Klimaschutz ist mir wichtig. Und ich weiß nicht, ob wir die Kohle wirklich SO dringend brauchen werden, wie manche behaupten. Vor allen Dingen aber möchte ich nicht gemeinsame Sache machen mit Menschen, die Luisa Neubauer „kleines Mädchen mit Pferdehofintellekt“ nennen. Die in Kommentarspalten Sätze schreiben wie: „Wir sind froh euch am Untergang zu sehen, ihr kriminellen Terroristen!“

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Oder die in Greta Thunbergs Instagram-Account schreiben: „Wie fühlt sich das an, als Ausländerin in einem fremden Land zum Rechtsbruch aufzurufen? Warum bindest du dich nicht an ein Kreuzfahrtschiff??? Denken konntet ihr Kinder noch nie!“

Ich stelle mir diese Menschen mit hochrotem Kopf vor dem Handy vor, wie sie eifrig ihre Meinung in die Kommentarspalten tippen. Die 3768. Meinung zu einem Post formulieren: „Alles überfahren mitm bagger“. Sich befriedigt zurücklehnen: Denen habe ich es jetzt gezeigt! Ein beliebtes Freizeitvergnügen schlecht gelaunter Bürgerinnen und Bürger, das die Sozialen Medien mit ihren Algorithmen belohnen.

Einerseits, andererseits, ist schwierig

Keine starke Meinung, keine Provokationen - keine Likes. Ich fühle mich da völlig fremd. Wie können sich all diese Leute ihrer Sache bloß so sicher sein? Als Influencerin würde ich es nicht weit bringen mit meinem Kommentar: „Hmm, tja, einerseits, andererseits. Ist schwierig. Muss noch mal drüber nachdenken …“.

Das Gleiche bei der Frage nach Panzerlieferungen Deutschlands für die Ukraine. Alle in den Sozialen Medien wissen mal wieder, wie es läuft. Außer mir. „Auch wenn ihr nur „helfen“ wollt. Die #Waffenlieferungen machen Euch zu Mördern!“ twittert DieLeserin1982. Und tatsächlich sträubt sich mein Gehirn gegen die Logik, dass man einen Krieg mit noch mehr Waffen beenden kann. Es sei denn, man gewinnt. Gegen Russland – nun ja …

Mit diesen Gedanken bin ich allerdings in zweifelhafter Gesellschaft. Die Pazifisten von heute heißen Dieter Bohlen oder – noch schlimmer – sie schreiben als „Günther_natürlichungeimpft“ die Kommentarspalten voll. Natürlich finde ich es richtig, einem kleinen Land zu helfen, das von einem sehr großen angegriffen wird. Und was ist hilfreich in einem Krieg? Waffen … Also doch lieber ein Like für Janpaul01, der twittert: „Alles rein was wir haben noch mehr panzerhaubitzen noch mehr raketenwerfer mit höherer Reichweite und kampfpanzer egal welcher Bauart …“?

Als Influencerin und Politikerin wäre ich eine komplette Fehlbesetzung
Kerstin Meier, Kulturredakteurin

Nicht nur als Influencerin, auch als Politikerin wäre ich eine komplette Fehlbesetzung. Lützerath wäre längst abgebaggert, bis ich zu dem Schluss komme, dass das dringend verhindert werden muss. Und die Ukrainer ständen vielleicht immer noch mit leeren Händen da.

Ist Unentschlossenheit also vollkommen untauglich für das digitale Zeitalter? Oder ist sie gerade eine Superkraft, die hilft, aus der allgemeinen Krass-krasser-am krassesten-Empörung-Spirale auszusteigen? Inne zu halten und anzuerkennen, dass manches zu komplex ist, um es mit einem schmissigen Kommentar zu erledigen. Beziehungsweise 3768 schmissigen Kommentaren ...

Ich bin – Überraschung – unentschlossen. Und Sie?