Köln – Manchmal ist es sicherer, alle Brücken hinter sich abzubrechen, vor allem, wenn man fürchtet, man könnte auf der anderen Seite den Mut verlieren. Gerhard Richter wählte diesen Weg gleich zweimal in seinem Leben. Das erste Mal im Februar 1961, als er, auf dem Heimweg von einer Studienreise durch die Sowjetunion, sein Gepäck am Berliner Bahnhof Zoo einlagerte, seine Frau in Dresden abholte und gemeinsam mit ihr „Republikflucht“ aus der DDR beging.
Beim zweiten Mal, gegen Ende 1962, war Richter schon im Westen, als Student der Düsseldorfer Kunstakademie. Er ging in deren Hof und verbrannte beinahe alles, was er seit seiner Flucht gemalt hatte, in einem Baucontainer. Dabei hatte der weitgehend mittellose Maler gerade eine Ausstellung in einer Düsseldorfer Galerie in Aussicht. „Wer weiß“, fragte er sich später, „was aus mir geworden wäre, wenn ich mit den Bildern Erfolg gehabt hätte?“
Gerhard Richters Frühwerk ging in Flammen auf
Das ist selbstredend eine müßige Frage, zumal heute, da Gerhard Richter auf ein Werk zurückblickt, um das ihn die halbe Künstlerwelt beneidet. Trotzdem würde man schon gerne etwas genauer wissen, was damals in Flammen aufging, und wie es zu diesem befreienden, aber auch verzweifelten Bruch mit der eigenen Vergangenheit kam.
Auf beides gibt jetzt ein schönes Bändchen so erschöpfend Auskunft, wie es der Sache angemessen ist. Es stammt von Dietmar Elger, heißt „Gerd Richter 1961/62“ und verfolgt Richters Lebensweg in diesen beiden entscheidenden Jahren (in denen sich der Maler noch Gerd nannte) anhand bislang unpublizierter Briefe und alter Fotografien. Manches davon ist bekannt, wird aber mit mehr Leben als bisher gefüllt.
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Gerd Richters Weg zu Gerhard beginnt an der Dresdner Kunstakademie als Musterschüler des Sozialistischen Realismus’, jedenfalls aus Sicht seiner Professoren. Er ist so gut im Geschäft, dass er sich einen Trabant leisten kann, und seine Kommilitonen halten ihn noch für einen angehenden Staatskünstler und „Bonzen“, als sich Richter nach einem Besuch der Documenta in Kassel schon längst entschlossen hat, in den Westen zu gehen. Dorthin, wo so „unverschämte“ Bilder wie von Jackson Pollock möglich sind. Eine Weile kleckst Richter heimlich Blätter im Stile Pollocks voll, während er im offiziellen Auftrag Wandgemälde für den Kampf der Arbeiterklasse malt – doch er sieht sich weder als Dissident noch als Teil der inneren Emigration.
Im Gießener Auffanglager wundert sich Richter zunächst, dass er so fröhlich ist. „Es ist triste hier, und beruflich habe ich nur vage Hoffnungen“, schreibt er Freunden, betont aber: Ich bereue nichts. Und Richter weiß sich zu helfen. In Düsseldorf angekommen, malt er ein Stillleben, damit es ihm die städtische Künstlerhilfe für 500 Mark abkaufen kann, außerdem bewirbt er sich beim Akademieprofessor Ferdinand Macketanz („ein harmloser Realist“, so Richter), der damals offenbar zu Recht im Ruf steht, jeden Bewerber anzunehmen. Allerdings wird er in der Klasse von Macketanz nicht glücklich: „Das Atelier ist zu voll und liederlich“, schreibt er, die Modelle seien „zu faul, sich auszuziehen“, die Kommilitonen pfeifen beim Malen, was Richter sich verbittet. „Ein furchtbarer Laden“ klagt er, wohl wissend, dass es auch an ihm liegt. „Ich bin ja immer so genau, ich kann es mir nicht abgewöhnen.“
Ein furchtbarer Laden, klagt Richter über die Düsseldorfer Akademie
Auch künstlerisch ist die Lage zum Verzweifeln. Richter wechselt die Stile beinahe mit jedem Bild, malt mal abstrakt und mal figürlich und arbeitet sich an seinen Vorbildern ab, ohne das Gefühl zu haben, deren Werken etwas Eigenes hinzuzufügen. Auf erhaltenen Fotografien sieht man abstrakte Flecken in der Manier Jean Fautriers, für eine Ausstellung in Fulda taucht Richter wie Alberto Burri Kleidungsstücke in Gips und erzielt einen Achtungserfolg: „Nichts verkauft, war auch nicht zu erwarten“, berichtet er. Aber die Kritiken seien günstig, „weil zum Teil böse und aufgebracht“.
Am eigenständigsten sind ein Comicstrip mit gestempelten Figuren und Nonsens-Schrift, den er erfolglos bei Verlagen anbietet („Meine Männerchen hatte ich zum Buch erweitert, Verlag geschickt, abgelehnt, Schweine“), und sitzende Figuren, die „wie aus Farbbrei modelliert“ sind und entlang der Längsachse durchgeschnitten scheinen wie die geschlitzten Leinwände Lucio Fontanas. Richter ist mittlerweile 30 Jahre alt und abgebrannt. Er sucht sich Brotarbeit, zeichnet Witzbildchen für eine Firmenzeitung, verkauft Bier und Käsebrötchen bei Akademiefesten und gestaltet Motivwagen für den Karneval. „Das bringt ganz schön Geld bei den Rheinländern“, wundert er sich.
Sein geknicktes Resümee wirkt heute freilich prophetisch: „Vom Malen kann man nicht leben. Man kann nur später davon reich werden.“
Dietmar Elger: „Gerd Richter 1961/ 62“, Verl. der Buchhandlung Walther König, 108 S., 29,80 Euro