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Kölner „Elektra“-PremiereOper als blutige Apokalypse

Lesezeit 6 Minuten
Elektra verendet an zwei Seilen, an die sie zwei überlebende Opfer des Massakers an Aegisths Gefolgschaft mit letzter Kraft gebunden haben.

Szene aus „Elektra“ an der Oper Köln

Roland Schwab inszeniert Richard Strauss' „Elektra“ als beklemmenden Alptraum mit großen Gesangsleistungen. Unsere Kritik.

Ein Sangesabend auf Weltniveau, über den sich ein Schwall von Theaterblut ergießt. So könnte man die neue Kölner „Elektra“ zusammenfassen, die jetzt im Saal 1 des Staatenhauses Premiere hatte – einen Tag nach der szenischen Produktion von Haydns „Schöpfung“. In der Tat: An der hiesigen Oper geht es derzeit Schlag auf Schlag – was wohl damit zusammenhängt, dass man die geballte Saisoneröffnung eigentlich im sanierten Riphahn-Bau hatte platzieren wollen. Aber in dieser Ecke saß bekanntlich eine fette Eule. Wie auch immer: Die Strauss-Oper nach der „Schöpfung“ – dieser Gegensatz hat es in sich. Dort der Aufgang einer Welt, hier ihr definitiver Untergang. Oper als Apokalypse!

Die Inszenierung von Roland Schwab und seinem Bühnenbildner Piero Vinciguerra ist reduktionistisch – um es einmal so zu sagen. Die Bühne füllen in die Tiefe gestaffelte dunkle Pfeiler mit kalt-weiß scheinenden Lichtröhren, zwischen denen die Darsteller teils schemenhaft umherhuschen. Flacker-, Blend- und Schatteneffekte bringen diese Szenerie immer wieder zum Tanzen, wobei zum Tanzen sonst niemandem zu Mute ist. Auch nicht der Titelgestalt, die sich am Ende nicht zu Tode tanzt, sondern an zwei Seilen verendet, an die sie zwei überlebende Opfer des Massakers an Aegisths Gefolgschaft mit letzter Kraft gebunden haben.

Sigmund Freud war für Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss womöglich wichtiger als Sophokles

Keine Frage, hier wird ein beklemmender Alptraum auf die Bühne gestellt, aus dem es keine Erlösung gibt – oder allenfalls eine durch den Tod, was gleich zu Beginn flüsternde Stimmen aus dem Off verkünden. Sie repräsentieren das individuelle und kollektive Unbewusste – und erinnern daran, dass bei diesem Einakter Freud für Hofmannsthal und Strauss womöglich wichtiger war als Sophokles. Wie auch immer: Was die Regie da macht, ist in seiner lapidar-schlichten Monstrosität packend, zieht den Zuschauer in Bann, der sich zudem – was diesmal ein Vorteil ist – vom Bühnengeschehen nicht durch einen Orchestergraben getrennt sieht. Das riesige Orchester ist links daneben platziert.

Pfeiler und flackerndes Licht machen es freilich nicht alleine: Schwabs Personenführung ist, was die Auftrittsdramaturgie und Konfiguration, was Über- und Unterordnung, was Stehen, Knien, Liegen anbelangt, exzellent, weil unmittelbar nachvollziehbar. Wenn etwa Elektra genussvoll auf Klytämnestras lange Schleppe tritt und diese darob nicht weiterkommt, sondern – lange vor ihrer Ermordung durch Orest – quasi zu ersticken droht, dann ist das ein Vorgang von großartiger gestischer Intensität, der auch keineswegs aufgesetzt wirkt.

Am Ende überschwemmt Blut die Bühne, man wähnt sich im Tarantino-Film

Die Kostüme (Gabriele Rupprecht) sind zeitlos-unauffällig, und doch scheinen historische Bezüge mitzuschwingen, stellen sich jedenfalls assoziativ her. Elektra etwa hat ein großes „N“ auf ihrem schwarzen Kleid stehen. Das bedeutet „Nemesis“, sie ist ja auch in dieser Oper die personalisierte Rache, worin sich auf pathologische Weise ihr Daseinszweck erschöpft. Kippt man freilich das „N“ um 45 Grad, wird aus ihm ein „Z“, und man hat das Zeichen auf Putins Panzern in der Ukraine vor sich. Zufall oder so gewollt – wer weiß? Am Schluss des Ganzen nach knapp zwei Stunden dräuen dann wirklich „die letzten Tage der Menschheit“ (Karl Kraus' Drama über den Ersten Weltkrieg, zu dem hin es bei der Uraufführung der „Elektra“ noch genau fünf Jahre Weile hatte, kommt als neue Oper von Philippe Manoury am Ende dieser Saison auf die Bretter der Kölner Oper).

Blut ist im Schwarz-Weiß der Bühne von Anfang an im Spiel, etwa wenn die Mägde über ihrer ungeliebten Genossin just den Kübel ausgießen, in dem sich der Aufwisch von der Mordtat an Agamemnon befindet. Zum Ende hin aber überschwemmt es, wie gesagt, mehr oder weniger Bühne, Körper, Gesichter, und selbst Orest muss sich noch librettowidrig die Kehle durchschneiden. Mit Verlaub, das ist zu viel. Der Zuschauer weiß doch eh schon, wie der Hase läuft, mit dieser unnötigen Übertreibung – wir sind hier ja nicht in Tarantinos Western „The Hateful Eight“ – verspielt Schwab leider einen Teil des vorher angehäuften Kapitals. Und ironisch ist diese Orgie in Rot ja wohl kaum gemeint.

Generell spielt die Regie mit hohem Einsatz, denn angesichts des Fehlens szenischer Ablenkungs- und Entlastungseffekte liegt das ganze Gewicht der Vorgänge auf den Darstellern. Wenn die ihre Rollen nicht ausfüllen, hilft auch ausgeklügelte Personenführung nicht mehr. Davon aber kann hier keine Rede sein, der Elektra nimmt man den grausamen Racheengel genauso ab wie Klytämnestra die personale Zerstörung durch ihre Alpträume oder Chrysothemis ihre flammende Sehnsucht nach einem besseren Leben.

Und die Sangesleistungen sind, wie gesagt, durch die Bank superb. Allison Oakes stemmt die mörderische Titelpartie bis zum Ende ohne wahrnehmbare Erschöpfung. Aus starker Mittellage öffnet sie unangestrengt nach oben, ihre hohen Bs und Cs sind triumphal. Dabei macht sie nicht durchweg auf durchgeknallte Heroine, ihre Anrede an Orest etwa wird zum Exempel anrührender, wenn auch rollenbedingt nur angetäuschter Menschlichkeit. Astrid Kessler als Chrysothemis kommt naheliegend leichter und lyrischer, bringt in ihrem herrlichen Es-Dur-Monolog leuchtendes Melos ein.

Bei Klytämnestra denkt der Kölner Opernfreund unweigerlich an Dalia Schaechter, die der Partie am Haus zu einer unverwechselbaren Ausdrucksintensität verholfen hat. Lioba Braun muss sich vor ihr allerdings nicht verstecken. Als wandelndes Gespenst am Stock eh schon eine imposante Erscheinung realisiert sie mit langgezogenen Vokalen und gezielten Tonlosigkeiten überzeugend den Klang gewordenen Horror. Die Schilderung ihrer Schreckensträume bekommt jene quälende, nervenzehrende Dringlichkeit, die dem Zuhörer suggeriert, er träume sie selbst. Insik Choi füllt als Orest mit so sattem wie agilem, aber auch irgendwie würdevollem Bariton mühelos den Raum, während der Tenor Martin Koch mit einem bemerkenswert unbeschwerten Aegisth aufwartet – was seine Erscheinung als Dandy im weißen Tom-Wolfe-Outfit immerhin nahelegt. Auch die Nebenrollen sind überzeugend besetzt. Alle Darsteller beeindrucken nicht zuletzt durch eine überaus präsente Artikulation – auf die Texteinblendungen ist der Zuschauer kaum angewiesen.

Felix Bender am Pult (ursprünglich sollte François-Xavier Roth da stehen) hat das Gürzenich-Orchester fest im Griff und vermeidet auch angesichts der Bühnenentfernung immerhin zu gewärtigende koordinative Reibungsverluste. Dass die Formation klanglich etwas im Hintergrund bleibt, ist gar nicht mal nachteilig. Auf alle Fälle hört man die Leit- und Personenmotive sowie ihre Schichtung und Kombination in Strauss' überwältigender Partitur mit großer Deutlichkeit, und immer wieder erfreuen die instrumentalen Einzelleistungen (Klarinetten und Horn zum Beispiel). Vor allem aber nimmt der lange Atem ein, die Dramaturgie der Strecke mit ihren anrollenden Steigerungen, ekstatischen Aufgipfelungen und Implosionen. Klar, Strauss geht hier immer wieder an die Grenzen der Tonalität. Aber in den „süffigen“ Stellen, und die werden hier keineswegs unterspielt, kündigt sich unüberhörbar der „Rosenkavalier“ an. Enthusiastischer Premierenapplaus für alle Beteiligten!