Der Pianist Kirill Gerstein sah nach seinem Konzert in der Kölner Philharmonie so aus, als könnte er es gleich nochmal spielen.
Kirill Gerstein in der Kölner PhilharmonieLocker selbst in mörderischen Passagen
Manche Komponisten verstehen sich als Vollender, andere als Erneuerer. Der Deutsch-Italiener Ferruccio Busoni (1866-1924) war mit Leidenschaft und Überzeugung beides zugleich: Als einer der bedeutendsten Pianisten seiner Zeit führte er die große romantische Liszt-Schule weiter; in seiner Musik fasziniert aber auch eine unruhig schweifende Neugier, ein spekulatives Vorangehen in unerschlossenes Terrain.
Dem gibt er in seinem Klavierkonzert op. 39 aus dem Jahre 1904 besonders viel Raum: Mit fast 75 Minuten Spieldauer ist es das längste bekannt gewordene Werk der Gattung. Der Komponist krönte es überdies mit einem Männerchor-Finale auf einen weihevollen Text des Dänen Adam Oehlenschläger. Offensichtlich fühlte sich Busoni berufen, mit einem Pendant zu Beethovens „Neunter“ das 19. Jahrhundert feierlich zu Grabe zu tragen.
Kölner Philharmonie mit John Storgårds am Sonntag
Im philharmonischen Sonntagskonzert stellte der finnische Dirigent John Storgårds dem kühnen Werk die siebte Sinfonie von Jean Sibelius zur Seite, die so radikal in der Stauchung ist wie das Busoni-Konzert in der Entfaltung: Sie klingt, als habe der Komponist ein 50-minütiges Orchesterwerk in den Schraubstock gespannt und auf die Hälfte seines Umfangs zusammengepresst. Schichten liegen wie zufällig übereinander, Bruchlinien treten hervor, gegensätzliche Strukturen sind mit schmerzhafter Spannung ineinander verkeilt.
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John Storgårds präsentierte beide Werke nicht als obskure Relikte einer krisenhafte Übergangsepoche, sondern als Musik von überwältigender Intensität und Lebenskraft. Er führte das glänzend disponierte SWR Symphonieorchester mit fester Hand an die Triggerpunkte der Sibelius-Sinfonie; bei Busoni bewunderte man vor allem die unangefochtene Konzentration und Klangqualität, mit der die Musiker bis zum letzten Takt bei der Sache waren und dabei von teutonischer Schwere mühelos zu lärmender italienischer Volksfest-Stimmung wechselten.
Pianist Kirill Gerstein mit phänomenaler Lockerheit
Die vereinten Männerstimmen von Chorwerk Ruhr und der Zürcher Sing-Akademie, die den Abend mit Sibelius’ „Finlandia-Hymne“ eröffnet hatten, erhoben sich nach einer Stunde mäuschenstillen Schweigens und sangen den keineswegs leichten Schlusschor des Busoni-Konzerts kraftvoll, höhensicher und mustergültig artikuliert.
Die größte Leistung vollbrachte an diesem eindrucksvollen Abend aber fraglos der Pianist Kirill Gerstein, der den mörderischen Klavierpart mit phänomenaler Lockerheit und überlegener Kraftdisposition aus dem Ärmel schüttelte. Selten hat man Kern und Ziel aller romantischen Klavier-Virtuosität so plastisch wahrgenommen: Als Transzendenz-Prozess, bei dem das Physische ins Geistige umschlägt. Kirill Gerstein erhob sich übrigens am Ende so heiter und entspannt, als könne er das kolossale Stück gleich noch einmal spielen. Nur der Flügel war zurecht verstimmt.