Immer mehr Künstler in der Klassik brechen aus den Routine-Pfaden aus. Über die neuen Trends muss die Szene um ihrer eigenen Zukunft willen diskutieren.
Klassik-Szene hinterfragt ihre TraditionenDie Musikdebatte braucht frischen Wind
Sicher, außergewöhnliche Konzertprogramme mit einer besonderen Agenda hat es im Klassik-Bereich auch früher immer wieder mal gegeben. Trotzdem dominierte über Jahrzehnte hinweg eine Standardfolge, die sich auf den Idealtypus „Ouvertüre plus Instrumentalkonzert plus Sinfonie“ bringen lässt. Innere Logik und werkübergreifende Bezüge? Oft genug Fehlanzeige, 80 Netto-Minuten mussten halt irgendwie vollgepackt werden.
Zweifellos gibt es solche Programme in unseren Konzerthäusern immer noch, aber Besucher der Kölner Philharmonie etwa können seit einigen Jahren und verstärkt in diesen Monaten, Wochen und Tagen beobachten, dass immer mehr Planer und Künstler aus den Routine-Pfaden aufsehenerregend ausbrechen. Jüngste Beispiele: der Auftritt des Baltic Sea Philharmonic unter Kristjan Järvi mit einem leicht „angepoppten“ nordisch-romantischen Programm der fließenden Übergänge sowie der Duo-Abend von Sol Gabetta und Patricia Kopatchinskaja mit einem köstlich inszenierten Zickenkrieg auf dem Podium.
Klassik-Künstler gehen neue Wege
Das waren nun zweifellos sehr spektakuläre Darbietungen, aber neue Wege gehen derzeit viele Künstler, zum Beispiel die Geigerin Isabelle Faust mit thematisch sehr spezifisch und eigenwillig fokussierten Soloabenden. Auch Kölns GMD François-Xavier Roth ist bekannt für seine genau konzipierten Stückfolgen, wo das Ganze stets mehr ist als die Summe seiner Teile: Die gespielten Kompositionen beginnen da einander über die Jahrhunderte hinweg gleichsam kommentierend zu bespiegeln.
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Ein neuer Trend im klassischen Konzertbetrieb? Ja, davon wird man wohl sprechen dürfen, die Häufung einschlägiger Ereignisse kann kein Zufall sein. Getriggert wurde er mutmaßlich durch mehrere einander überlagernde Umstände und Tendenzen. So wurden die traditionellen Klassik-Konzerte hart durch die Corona-Krise getroffen, die ihrerseits den seit Jahren zu beobachtenden schleichenden Auszehrungsprozess bei den Zuhörerzahlen signifikant verstärkte. Von dem Aderlass haben sie sich – ausweislich der vielen leeren Reihen selbst bei höchstkarätigen und ehemals ausverkauften Abo-Konzerten – bis zur Stunde nicht erholt.
Neue Impulse für die Zukunft der klassischen Musik
Die neuen Konzepte und Programmationen sind erkennbar – und deshalb sind sie aller Ehren wert – dem Willen geschuldet, dieser Entwicklung zu begegnen, altehrwürdige Veranstaltungsformen zu attraktivieren und auch, wenn möglich, ein jüngeres Publikum anzusprechen. Die Konzerte mit Järvi und Gabetta/Kopatchinskaja zeigten indes auch, dass das Traditionspublikum problemlos mitgeht und weder „buh“ ruft noch mit den Füßen abstimmt. Man kann ihm also auf dem Weg in das Konzert von morgen ganz offensichtlich einiges zumuten.
Selbstredend sind neue Formate nicht allein deswegen gut, weil sie neu sind. Craziness ist für sich genommen noch kein Qualitätsmerkmal – schon gar nicht, wenn sich mit ihr eine unkritische Anbiederung an die Usancen der Popmusik verbindet. Und einsichtig dürfte auch sein, dass es Bereiche der klassischen Musik gibt, die sich gegen eine zeitgemäße Zurichtung, gegen Dekonstruktion oder gar Ironisierung sperrt. Eine anderthalbstündige Bruckner- oder Mahler-Sinfonie sind eben genau das: anderthalbstündige Großwerke, die aufseiten der Zuhörer vor allem Konzentration und Versenkung erfordern. Der Spielraum, aus ihnen mehr zu „machen“, ist eng.
So oder so und aus gutem Grund werden die neuen, experimentellen Formate auch für Diskussion sorgen und Widerspruch provozieren. Aber das ist allemal zu begrüßen, die Branche braucht um ihrer eigenen Zukunftsfähigkeit willen den frischen Wind der Debatte.