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Interview

Oper Köln
„Bei Don Giovanni spielt Moral keine Rolle“

Lesezeit 7 Minuten
Cecilia Ligorio und Tomáš Netopil stehen vor dem Staatenhaus der Kölner Oper.

Cecilia Ligorio (rechts) und Tomáš Netopil (links) vor dem Staatenhaus der Kölner Oper

Cecilia Ligorio und Tomáš Netopil über Mozart, den Archetypus des Verführers und die „Don Giovanni“-Premiere an der Kölner Oper.

Frau Ligorio, vor zweieinhalb Jahren haben Sie sich an der Kölner Oper mit Rossinis „La Cenerentola“ vorgestellt – mit raffiniert eingezogenen zusätzlichen Handlungsebenen und Spiel-im-Spiel-Effekten, die den Zuschauer nahezu an ein Pirandello-Drama gemahnten. Jetzt also, am 9. März, „Don Giovanni“, eine ganz andere Materie. Haben wir da vielleicht trotzdem Ähnliches zu gewärtigen?

Cecilia Ligorio: Auf jeden Fall versuche ich in beiden Inszenierungen, den existenziellen Angelpunkt des Ganzen zu treffen. Der lässt sich hier wie dort in die Frage fassen: Wer bist du eigentlich? In „La Cenerentola“ wird der Zauberer Alidoro gleichsam zum Medium einer Selbstfindung der Titelfigur. „Don Giovanni“ ist selbstredend ganz anders, aber auch hier geht es um die Frage nach personaler Identität, um grundsätzliche Fragen des Menschseins. Don Giovanni ist auch das Geheimnis, das er aus sich selbst macht.

Sie spielen auf seine Äußerung gegenüber Donna Anna nach seinem missglückten Vergewaltigungsversuch an: „Nie wirst du erfahren, wer ich bin.“

Ligorio: Ja, und dieses Geheimnis nimmt die Gestalt eines zentralen Mythos der Moderne an, der durch die Zeitalter, durch die Jahrhunderte immer wieder aufgegriffen wurde, in unterschiedlichen Genres, von unterschiedlichen Autoren. Das ist mein zentrales Anliegen: den Mythos – der immer eine unerlässliche Stufe zwischen unbewusstem und bewusstem Wissen ist – so auf die Bühne zu bringen, dass es dem Zuschauer verständlich wird, dass es ihn interessiert und hoffentlich auch bewegt.

Was für ein Mythos ist das genau? Mozarts Oper wurde ja in der Rezeptionsgeschichte überschüttet und überformt mit psychoanalytischen und philosophischen Deutungen, deren Vielfalt auf eine mythische Leerstelle verweist.

Ligorio: Sie erwähnen jetzt die romantische Deutungstradition. Aber der Mythos des Don Juan geht weit über sie hinaus. Meine einschlägige Referenz ist da der amerikanische Psychoanalytiker James Hillman und seine von C.G. Jung beeinflusste Theorie der Archetypen. Jeder von uns hat demzufolge einen „geheimen inneren Garten“ – die rationalen und die instinktiven Anteile des Lebens kontrastieren –, und wir können unsere interne Geografie kartieren mit Blick auf die Geheimnisse dieses Gartens. Der antike Gott Pan ist für Hillman gleichsam der Inbegriff des Mythischen – Pan, sagt er, erinnere uns daran, dass die Psyche nicht nur rational und geordnet, sondern auch chaotisch und wild ist.

Don Giovanni ist auch das Geheimnis, das er aus sich selbst macht
Cecilia Ligorio

Und Don Giovanni…

Ligorio: Don Giovanni erscheint auf der Bühne zunächst als ein moderner, „realer“, intensiver, wenngleich auch irgendwie geheimnisvoller Charakter, dessen Geschichte wir folgen können. Aber durch ihn erreicht der Mythos das Leben, er steckt hinter seinem Sprechen über Tanz und Wein, auch hinter der Verbindung von Lust und Todestrieb. Er ist eine archetypische Gewalt, ein Motor, der das Leben der Titelfigur selbst, aber auch das aller anderen Beteiligten transformiert.

Um ein moralisches Urteil kann es da offensichtlich nicht gehen, dieser Löffel ist irgendwie zu kurz.

Ligorio: Moral spielt in diesem Fall tatsächlich keine Rolle. Das heißt nicht, dass ich als empirische Person die Art und Weise, wie Don Giovanni mit Frauen umgeht, billigen muss. Aber für mich als Regisseurin und meine Interpretation der Oper ist es viel wichtiger zu verstehen, was mit den Frauen, die Don Giovanni begegnet sind – Donna Elvira, Donna Anna, Zerlina –, tatsächlich geschieht. Auch mit Don Ottavio, der den Zusammenbruch seiner Ehefrau erlebt. Mir geht es darum zu erzählen, wie der Mythos alle, die ihm begegnen, in seinen Sog zieht. In diesem sind alle anderen Figuren Bestandteile von Don Giovannis Welt.

Als Regisseurin stehen Sie vor der Aufgabe, den Mythos zu visualisieren, ihn szenisch aufzulösen. Was haben wir diesbezüglich zu erwarten?

Ligorio: Wir haben zum Beispiel kein traditionelles Bühnenbild. Es ist eher eine Metapher, es stellt ein Labyrinth dar, ein Bild von Giovannis Wunschwelt, seiner inneren Trieb- und Bewusstseinswelt, in der die Charaktere sich zu verlieren drohen. Sie müssen selbst einen Weg aus diesem Labyrinth herausfinden. Das alles wird sehr dynamisch sein, wir setzen in diesem Sinne auch stark auf die „Sprache der Körper“.

In dieses Set müssen Sie, Herr Netopil, die Musik hineinplatzieren. Wie funktioniert das?

Tomáš Netopil: Das funktioniert sehr gut. Für mich als Dirigenten ist es immer wichtig, die spezifische musikalische Ästhetik in einer Inszenierung zur Geltung zu bringen. Sehen Sie, das ist meine dritte Mozart-Produktion in diesem Jahr, und ich versuche immer, meine eigene Mozart-Ästhetik irgendwie zu entwickeln. Regisseure arbeiten sehr unterschiedlich. So wie es hier geschieht, mag ich es sehr. Es unterstützt mich in meiner Aufgabe, den ganzen Organismus zusammenzusetzen. Und es unterstützt mich darin, die Rollencharaktere schlüssig zu entwickeln. Ich erwähne hier nur mal die Ensembles des ersten Aktes. Das ist Buffa und Drama in einem und zur selben Zeit, ein verbreitetes Helldunkel mit den unterschiedlichsten Farben.

Mozart hat sich identifiziert mit der zutiefst humanen Substanz seiner Stoffe
Tomáš Netopil, Dirigent

Ihre individuellen Erfahrungen mit der Musik?

Netopil: Das ist ein ungeheurer Reichtum, wobei es – abgesehen von den Verbindungen zwischen Ouvertüre und zweitem Finale – motivisch-thematisch kaum interne Links gibt. Es gibt eine enorme Vielfalt an Farben und Stilen, das geht zurück in den Barock und nach vorne in die Romantik. Nehmen Sie etwa Elviras Arie „Ah, fuggi il traditor!“, wo die Musik auf einmal irgendwie nach Händel klingt.

Ligorio: Tomáš hat auch ein gutes Gespür für die spezifisch „innere Zeit“ der Vorgänge. Mozart komprimiert und dehnt – wenn etwas augenblickshaft passiert, ist das eine andere Zeit, als wenn es um die Darstellung von Gefühlen geht.

In welcher Weise kommentiert eigentlich Mozart seine mythische Figur? Wie „beurteilt“ er ihn – durch seine Musik?

Netopil: Also, das Sujet als solches war ihm wohl sehr nahe – sonst hätte er nicht dieses Meisterwerk schreiben können. Ob Mozart sich mit der Titelfigur in einem engen Sinn identifiziert hat? Eher wohl nicht, das ist eine romantische Vorstellung. Der Komponist hat sich identifiziert mit der zutiefst humanen Substanz seiner Stoffe – das gilt auch für „Figaro“ und „Così fan tutte“.

Ligorio: Mozart hat die anderen Charaktere ja nicht mit weniger Farben, Intensität und Liebe bedacht, ich denke, er hat sich selbst in sehr unterschiedlichen Personen der Handlung verborgen, in Zerlina, in Donna Anna, in Don Ottavio. Man könnte, bezogen auf die Oper, von einer kaleidoskopischen Identität sprechen.

Dem, was Sie über Ihr Regiekonzept gesagt haben, ist zu entnehmen, dass in der Inszenierung sozialgeschichtliche Konstellationen der Zeit der Werkentstehung keine Rolle spielen – die Krise der Ständegesellschaft kurz vor der Französischen Revolution etc.

Ligorio: Nein – einfach aus dem Grund, dass ich nicht dabei war. Ich kann mir nicht vorstellen, wie das damals war, was das für mich heute bedeuten könnte. Für das Bühnenbild hat das die Folge, dass es sich historisch nicht verorten lässt – es beschwört, wie gesagt, Archetypen, die „Zeit“ der Oper ist eine Traumzeit. Mir kommt es nicht auf Gegensätze zwischen den Figuren als Angehörigen unterschiedlicher Gesellschaftsschichten an als vielmehr darauf, ihre eigenen inneren Gegensätze auszuloten. Da geht es dann, es sei wiederholt, zentral um die Frage: Wer bin ich eigentlich? Sie wird auch durch den Komtur aufgeworfen, der Don Giovanni auffordert, sich zu ändern. Der aber kann das nicht, selbst wenn er es wollte.

Was ist eigentlich mit dem Schlusssextett? Es wurde oft – als vermeintlich platte Moral von der Geschichte – weggelassen? Maestro, brechen Sie eine Lanze für dieses „Ende nach dem Ende“!

Netopil: Man kann das Sextett durchaus mit dem Schluss von „Così fan tutte“ vergleichen. Da gehen sich die Figuren auch sozusagen verloren, das ist ja kein positives fine lieto. Ähnliches geschieht in „Don Giovanni“: Don Giovanni ist weg, und die Übriggebliebenen haben allesamt kein Zentrum mehr. Verschärft stellt sich die Frage, wer sie sind, wer sie ohne Don Giovanni sind.