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„Orlando“-Premiere in KölnSpiegelbilder ohne Tiefenschärfe

Lesezeit 5 Minuten
Giulia Montanari, Alina König Rannenberg, Xavier Sabata, Adriana Bastidas-Gamboa, Gianluca Buratto

Bei der Premiere von Händels „Orlando“ der Oper Köln im Staatenhaus: Giulia Montanari, Alina König Rannenberg, Xavier Sabata, Adriana Bastidas-Gamboa und Gianluca Buratto

Rafael R. Villalobos inszeniert Händels „Orlando“ mit einem Link zu Virginia Woolfs Roman. Unsere Kritik.

Im Programmheft belehrt uns Rafael R. Villalobos darüber, was wir auf der Bühne des Saales 2 im Staatenhaus erleben werden oder bereits erlebt haben. Der spanische Regisseur stellt nämlich in seiner Inszenierung der Händel-Oper „Orlando“ (1733) einen Link zu Virginia Woolfs Roman „Orlando – eine Biografie“ (1928) her. Ob das von der Sache her funktioniert, ist fraglich, bei Licht besehen hat Händels auf Ariosts Epos „Orlando furioso“ basierender Orlando mit Woolfs sich in eine Frau verwandelndem britischem Adligen wenig zu tun – um es einmal so zu sagen. Wichtiger noch ist die generelle Frage, ob der Zuschauer der vom katalanischen Festival „Peralada“ übernommenen Produktion die Mitteilungen des Regisseurs „sehen“ kann. Wenn das nämlich nicht der Fall ist, hat die Inszenierung ein Problem – weil sie sich eben durch die Kraft der Visualisierung selbst erklären und nicht auf von außen zugelieferte Verständniskrücken bauen sollte.

Orlando - Gelb wie der Neid

Und genau dieses Problem hat Villalobos´ „Orlando“. So richtig viele Zuschauer werden Virginia Woolfs Roman nicht kennen, und wer ihn kennt, wird beim Besuch der Produktion nicht unbedingt an ihn denken. Okay, es zeigen sich Woolf-Motive auf der Bühne: Orlando etwa trägt einen gelben Herrenanzug, über dessen Hose sich indes andeutungsweise ein Rock schiebt. Außerdem singt Xavier Sabata als hoher Counter eben ziemlich hoch. Das kann man als Anspielung auf die Geschlechter- und Geschlechterrollenverflüssigung bei Woolf interpretieren.

Gelb steht übrigens farbsymbolisch für „Neid“, und neidisch auf den Konkurrenten Medoro, der ihm die geliebte Angelica wegschnappt – und mit Dorinda gleich noch eine zweite Frau begeistert –, ist Orlando (deutsch: Roland) ja nun wirklich. Bis zur Raserei. Auch die Farben der übrigen Gewandungen könnten deren Träger sozusagen als wandelnde Allegorien ausweisen: Angelica (rot) wäre dann die Liebe, Medoro (grün) die Hoffnung und Dorinda (blau) die Treue.

Xavier Sabata, Alina König Rannenberg

Die Farben der Gewandungen weisen deren Träger als wandelnde Allegorien aus. Hier: Xavier Sabata und Alina König Rannenberg

Ich-Zerfall und Wahnsinn

Für das Publikum dürften sich so oder so andere Lesarten als solche mit dem Subtext Virginia Woolf ergeben. Vielleicht die folgende: Die Bühnenfläche (Emanuele Sinisi) ist ein vor Hintergrundschwärze schräggestelltes Dreieck, über dem als „antwortende Form“ ein ebenfalls großer dreieckiger Spiegel hängt. Darin verdoppeln sich die Bühnenfiguren – es geht in dieser Oper ja auch um Ich-Zerfall und Wahnsinn. Einziges ständiges Inventar ist ein Schreibtisch mit Lampe, vielen Büchern und Schreibmaschine. Hier wird auch gelesen und geschrieben, und zwar offensichtlich die und an der Geschichte von Orlando.

Dass Romanfiguren im Roman über sich selbst lesen können, ist – siehe den zweiten Teil des „Don Quijote“ – ein uralter humoristischer Erzählkniff. Er weist die Figuren der Literatur als das aus, was sie sind: als Textgestalten, die außerhalb von Texten keine Existenz haben. Hier nun also könnte die Textgestalt Orlando aus den Büchern erfahren, dass er seiner kollektiv approbierten Rolle genügen und bitte schön ein Kriegsheld sein soll. Will er aber gar nicht: wenn schon Held, dann am liebsten Held der Liebe! Womit sich eine – die Spiegelverdopplung legitimierende – Spaltung der Figur in eine Fremd- und ein Selbstbild ergäbe.

Inszenierung mit vielen Leerstellen

Wem diese Deutung nicht gefällt, kann eine andere versuchen, die Inszenierung lässt da – was ja vielleicht sogar sein Gutes hat – viele Leerstellen gähnen. Davon unabhängig ist der Regie in Sachen Bühnenbewegung und Personenführung nicht viel eingefallen. Orlando zappelt zuweilen wie ein auf dem Rücken liegender Käfer am Boden, gibt dann hin und wieder auch den starken Willi – nun ja. Es setzt ein bisschen Geturtel und erotisches Geplänkel, alles nicht sonderlich inspiriert und inspirierend. Und am Schluss tut sich erneut ein Rätsel auf: Warum muss der Sternseher und Zauberer Zoroastro, der Orlando von seinem von der schönen Angelica erzeugten Liebes- und Eifersuchtswahn befreit, entkräftet am Boden krauchen?

Wenn sich ob der Bühnenhandlung über drei Akte und eine Netto-Aufführungsdauer von zweieinhalb Stunden hinweg immer wieder gepflegte Langeweile einstellt, dann ist daran freilich nicht nur Villalobos schuld. Die Dramaturgie des Librettos (nach einem gewissen Carlo Sigismondo Capeche) ist ziemlich hanebüchen, und die Konflikte, so wie sie sich hier darstellen, sind geeignet, einen völlig kaltzulassen. Platt ist auch die Moral: Sei nicht eifersüchtig, damit machst du anderen und dir selbst nur das Leben schwer!

Händels Musik lässt ausdrucksstarke Arienperlen kullern

Nicht kalt lässt Händels Musik, die immer wieder melodisch exquisite, ausdrucksstarke und teils mit großartigen Instrumentaleffekten (Nachtigall!) ausgestattete Arienperlen kullern lässt. Die Wahnsinns-Großszene des Orlando im zweiten Akt („Ah stigie larve!“) mit ihrer Taktzerstörung etwa ist vom Feinsten. Klar, Händel ist und bleibt Händel – wer Quintfall-Sequenzen partout nicht mag, sollte sich das Stück nicht anhören.

Und gerettet wird die Produktion durch die ausgezeichnete musikalische Ausführung. Das Sängerquintett ist hervorragend: Xavier Sabata in der Titelpartie verfügt als Counter über ein überaus wohlklingendes Organ, lässt seine Koloraturen geschmeidig rollen und schafft überzeugend den Übergang in den Wahnsinn mit leicht übertriebenen Vokaldehnungen. Im Timbre einander ähnlich sind die Stimmen von Giulia Montanari (Angelica) und Alina König Rannenberg (Dorinda): schöne, helle, bewegliche Soprane mit tollen Koloraturhöhen, aber auch beseeltem Legato. Und auch bei Dorinda geht es schon mal in Richtung madness – dann klingt sie verdächtig nach Lucia di Lammermoor.

Hervorragendes Sängerquintett rettet die Produktion

Einen starken Kontrast unter den Frauen (allesamt Ensemblemitglieder) setzt Adriana Bastidas-Gamboa als Medoro. Sie ist eigentlich als Mezzo ausgewiesen, hier aber verströmt sie ihre dunkle Altlage mit berückender Sinnlichkeit. Klar, sie hat von Haus aus keine Barockstimme und auch ziemlich viel Vibrato drauf. Das macht aber nichts, ihre Partie gestaltet sie mit großer Fülle, szenischer Kraft und Eindringlichkeit. Gianluca Buratto als Zoroastro schließlich bringt die Bass-Qualitäten eines überzeugenden Komturs mit – der Vergleich drängt sich dann besonders auf, wenn er aus dem Off singt.

Der Barock-Experte Rubén Dubrovsky am Pult hält das abgespeckte Gürzenich-Orchester nicht nur zu engagiertem, sondern auch einfühlsam-metiergerechtem Spiel an. Vor allem hat er ein gutes Händchen für die ganz unterschiedlichen Affekte und Valeurs der Partitur. Da wird nichts über einen Kamm geschoren, einzelne Szenen gelingen mit einer schier verzaubernden, ja trancehaften poetischen Entrückung. Schade, dass die das Klangcharisma killende Akustik im Saal da nicht mitspielt. Das merkt man gerade bei so einem Werk. Die Violinen können so klangschön spielen, wie sie wollen – ein Rest an dumpfer Trockenheit bleibt unter diesen Verhältnissen in den Ohren hängen. Buhfreier, wenngleich abgestufter Premieren-Beifall für alle Beteiligten!