Um 6,5 Prozent hat die Clankriminalität 2023 zugelegt. Auch in Köln ist die Verfahrenszahl gestiegen.
Reul stellt Lagebild NRW vor7000 Straftaten gehen auf das Konto krimineller Clans – ein Höchststand
Die Polizistin hatte keine Chance. An jenem 7. April 2023 eskalierte eine Fahrzeugkontrolle im westfälischen Senden. Eigentlich ging es um eine Petitesse. Der Beifahrer hatte sich nicht angeschnallt. Die Frage zu seinem Ausweis beantwortete der Mann mit Schlägen, der Beifahrer, sein Bruder, beteiligte sich ebenfalls an dem Gewaltakt. Entfesselt schlugen die Männer, Mitglieder eines kurdisch-libanesischen Clans, auf die Polizistin ein. Einem Kollegen, der der Beamtin zu Hilfe eilte, brachen sie die Hand.
Nach der Attacke kam der jüngere der beiden Schläger glimpflich davon. Trotz etlicher Vorstrafen wegen schwerer Gewaltdelikte wurde er zu lediglich einem Jahr und einem Monat verurteilt.
Lagebild listet 500 Fälle mehr als im Vorjahr auf
Die Clankriminalität wuchert. Dies ist eine der Botschaften des neuen Lagebildes aus dem Düsseldorfer Landeskriminalamt, das Innenminister Herbert Reul am Donnerstag vorlegte. Seit seinem Amtsantritt hat der CDU-Politiker den Kampf gegen kriminelle türkische-arabische Familienzweige zur Chefsache gemacht. Die Taktik der 1000 Nadelstiche, von der Opposition teils belächelt, förderte demnach einen Rekordwert zu Tage. Das Lagebild listet für 2023 exakt 7000 Verfahren auf, knapp 500 Fälle mehr als im Jahr zuvor. Auch erhöhte sich die Zahl der Tatverdächtigen im Vergleich zu 2022 um knapp 200 auf 4213 Beschuldigte.
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Immer wieder hat die Landtagsopposition die Steigerungen als Beweis angeführt, dass die Landesregierung bei allem Clan-Getöse die Lage nicht im Griff habe. Schließlich gehen die Fallzahlen rasant nach oben.
NRW-Innenminister Herbert Reul hingegen sprach am Donnerstagmittag von einem Erfolg: „In Nordrhein-Westfalen bleibt es weiter ungemütlich für Clankriminelle. Unsere Polizei steht denen auf den Füßen – ärgert, wo die Geschäfte machen wollen, und stört, wo das eigene Regelwerk Recht und Gesetz ersetzen soll.“
3000 Razzien seit 2018
Die Bilanz des CDU-Politikers lässt sich sehen: Seit Juli 2018 wurden über 3000 Razzien gefahren, 8500Wettbüros sowie Spielcasinos, Shisha-Bars und Barbar-Shops durchsucht. „Dabei hat die Polizei mehr als 4900 Strafanzeigen angefertigt, über 7800 Ordnungswidrigkeitsanzeigen und über 8200 Verwarngelder verhängt“, führte Reul aus. Dies sei Teil der Null-Toleranz-Strategie, „mit der wir sehr gut fahren“.
Die intensiven Ermittlungen haben offenbar mehr Straftaten zu Tage gefördert. „Da Clankriminalität vor allem ein Kontrolldelikt ist, bedeutet das auch: Die Polizei hat mehr aufgedeckt“, betonte der Minister.
2145 Gewaltdelikte und Freiheitsberaubung machen 30 Prozent des gesamten Fallaufkommens aus. Gut 100 Taten mehr als noch im Jahr zuvor. 1200 Verfahren zählten zum Bereich schwerer Kriminalität wie Raub und gefährlicher Körperverletzung. Im Vergleich zu 2022 stiegen etwa Vermögens- und Fälschungsdelikte um drei Prozentpunkte auf knapp 1100 Fälle. Der Drogenhandel nahm um 160 Verfahren zu. Insgesamt wurden seit 2017 über 22 Millionen Euro abgeschöpft.
Verfahrenszahl steigt in Köln auf 317 Fälle
„Damit wir sehen, was in diesem Bereich passiert“, sagte Reul, „hat das LKA zur Auswertung einen namensbasierten Ansatz entwickelt.“ Laut dieser Statistik steht der Omeirat-Clan wie auch in den Jahren zuvor klar auf Platz eins von insgesamt 118 registrierten kriminellen Großfamilien.
Knapp jede zehnte Tat geht demnach auf das Konto der weitverzweigten Familie. Die regionalen Schwerpunkte liegen entlang der Ruhrschiene. Die Polizei in Essen, mit ihrer besonderen Aufbauorganisation Clankriminalität führt seit Jahren das Städteranking an. (2023: 869 Fälle, 2022: 550), auf Rang sieben liegt Köln. Hier kletterten die Verfahrenszahlen um 132 auf 317.
Häufig aus der Berliner Bundespolitik propagierten härteren Abschiebemaßnahmen krimineller Clan-Größen erteilte Reul eine Absage: „Staatsangehörigkeiten allein bringen uns nicht weiter, auch weil viele der Tatverdächtigen deutsche Pässe haben.“ Genauer gesagt inzwischen gut die Hälfte der Beschuldigten, gefolgt von 770 Syrern, 580 Libanesen, 407 Türken sowie 219 Menschen mit ungeklärter Herkunft.
In den vergangenen vier Jahren erfasste das LKA 273 Massenschlägereien. So etwa in Castrop-Rauxel zwischen kurdisch-libanesischen Clans und syrischen Großfamilien im Juni 2023. Mit Äxten, Brecheisen und Holzlatten gingen Dutzende Protagonisten auf offener Straße aufeinander los. Inzwischen laufen 30 Verfahren gegen die Schläger.
Anzahl syrischer Tatverdächtiger hat sich mehr als vervierfacht
Vor dem Hintergrund hatte der Minister ein Analyseprojekt namens „Euphrat“ initiiert. Ergebnisse konnte der CDU-Politiker noch nicht präsentieren. In dem Kontext machte er aber auf einen alarmierenden Trend aufmerksam: „Zwischen 2015 und 2023 hat sich die Anzahl syrischer Tatverdächtiger in NRW mehr als vervierfacht.“
Die Clanwelt, so berichtet das Lagebild, orientiert sich an einem eigenen, archaischen Wertekanon. Die Familienehre gilt alles, das deutsche Rechtssystem nichts. Konflikte werden häufig durch selbst ernannte Friedensrichter im kriminellen Clan-Milieu gelöst. So geschehen Ende August 2023. Da gerieten Mitglieder des berüchtigten Al Zein-Clans mit einer anderen Sippe aneinander. Es ging um die Scheidung einer nach islamischen Recht geschlossenen Ehe. Die Fehde entbrannte, da beide Seiten das Sorgerecht für den einzigen gemeinsamen Sohn einforderten. Der Streit mündete in einer handfesten Prügelei.
Schließlich schaltete man den Familienältesten einer der beiden Parteien als Schlichter ein. Am 28. August handelte der Friedensrichter in einem türkischen Café einen Vertrag aus, in dem der Streit beigelegt wurde. Der Vater erhielt das Sorgerecht für den Sohn, im Gegenzug nahm seine Familie die belastenden Aussagen bei der Polizei über die Schlägerei zurück. Die Clanermittler zeigten den Friedensrichter wegen Strafvereitelung an.