In Troisdorf werden bei dem Unternehmen Diehl Defence Zünder für Artilleriegaranten hergestellt. Der Ausbau der Fabrik stößt vor Ort auf Widerstand. Ist die Planungshoheit einer Kommune im Rheinland am Ende mitverantwortlich dafür, dass der Ukraine die Munition ausgeht?
Waffen vs. WohnraumStreit um Rüstungsfirma in Troisdorf – „Kirchturmpolitik spielt Putin in die Hände“
Das Betriebsgelände ist mit einem hohen Stacheldrahtzaun gesichert. Sebastian Hartmann steht an der Schrankenanlage und blickt auf die Zufahrt. Hier, an der Kaiserstraße 3 in Troisdorf, produziert die Firma Diehl Defence Zündmittel für Artilleriegaranten, die die ukrainische Armee im Krieg gegen Russland händeringend benötigt. Der Rüstungshersteller will die Produktion ausweiten, doch eine Mehrheit im Stadtrat sperrt sich, will auf dem Areal lieber Wohnraum schaffen.
„Der Fall zeigt, dass die Zeitenwende offenbar noch nicht in den Köpfen angekommen ist“, sagt Hartmann, der für die SPD im Bundestag sitzt, im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. „Eine solche Kirchturmpolitik spielt Putin in die Hände.“
Der Streit um die künftige Nutzung der Industriefläche in Troisdorf schlägt hohe Wellen. Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) hat in der Sache mit NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst telefoniert, Nathanael Liminski (CDU), Chef der Staatskanzlei, bestellte Bürgermeister Alexander Biber (CDU) und Helmut Rauch, den CEO des Rüstungsunternehmens, im Dezember des vergangenen Jahres zu einem Chefgespräch ein. Ist die Planungshoheit einer Kommune im Rheinland am Ende mitverantwortlich dafür, dass der Ukraine die Munition ausgeht? Auch fast sechs Monate nach dem Treffen schwelt der Konflikt weiter. „Offene Fragen“ müssten noch einer „einvernehmlichen Klärung zugeführt werden“, heißt es in einer Erklärung der Stadt Troisdorf.
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Sebastian Hartmann ist der innenpolitische Sprecher in der SPD-Bundestagsfraktion, Troisdorf liegt in seinem Wahlkreis. Der frühere Landeschef der NRW-SPD fordert Ministerpräsident Wüst auf, seinen „Parteifreund Biber zur Vernunft“ zu bringen. „Wir müssen endlich einsehen, dass die neue Bedrohungslage auch Auswirkungen für die Menschen in NRW hat“, sagt Hartmann.
Bebauungsplan soll Expansionspläne der Rüstungsfirma ausbremsen
In Troisdorf produziert Diehl Defence auf dem Gelände des ehemaligen Sprengstoffherstellers Dynamit Nobel. Das Areal ist 50 Hektar groß und steht aktuell zum Verkauf. Die Stadt hat sich das Vorkaufsrecht gesichert und will einen Bebauungsplan aufstellen. Ein Schritt, mit dem die Expansionspläne der Rüstungsfirma ausgebremst werden sollen. Würde Diehl Defence die Fläche erwerben, müssten weiterhin weite Teile brach liegen, weil ein Sicherheitsabstand zwischen der Waffenproduktion und der angrenzenden Wohnbebauung vorgeschrieben ist.
Verständnis für die Vorbehalte in Troisdorf zeigt die Kölner Bundestagsabgeordnete Serap Güler, die im Verteidigungsausschuss für die CDU-Politik macht. Sie könne nachvollziehen, dass vor Ort Bedenken gegen den Ausbau der Produktion existierten. „Wir werden die nötigen Ressourcen für unsere Verteidigungsfähigkeit aber nicht im All herstellen können“, sagt Güler im Gespräch mit unserer Zeitung. Wenn die Gefahr bestehe, dass Deutschland in fünf Jahren selbst zum Ziel der russischen Armee werden könnte, müsse die „Sicherheit hochgefahren“ werden: „Dazu gehört für mich auch ganz klar die Errichtung solcher Produktionsstätten“, so Güler.
Nach dem Ende des Kalten Krieges wurden in NRW 13 Bundeswehrstandorte aufgelöst oder verkleinert. Damals gab es landesweit sechs Heimatschutzbataillone mit Standorten in Köln, Arnsberg, Münster, Hamm und Issum. Sie hatten eine Personalstärke von jeweils 970 Mann und bestanden zu 95 Prozent aus Reservisten. Die Heimatschutzbataillone waren komplett einsatzfähig und hatten selbst Waffen und Material.
18 Kampfpanzer aus NRW verlegt
Nach der Zerschlagung der alten Struktur wurden in NRW als Ersatz das „Heimatschutzregiment 2“ neu aufgestellt. Die drei Kompanien „Rheinland“, „Ruhrgebiet“ und „Westfalen“ verfügen allerdings nur über 500 Reservisten, die von derzeit rund 30 aktiven Soldaten unterstützt werden.
„Viel zu wenig, um in einem Ernstfall bestehen zu können“, sagt der Bundeswehr-Experte Helmut Michelis, Oberst der Reserve und ehemaliger Fallschirmjäger: „Im Kalten Krieg hatten 800.000 Alarmreservisten im Westdeutschland ihren olivgrünen Seesack daheim im Keller, heute ließen sich vielleicht noch 15.000 Mann mobilisieren.“
Zu den Standorten in Deutschland, in denen einsatzbereite Einheiten stationiert sind, zählt das Panzerbataillon 203 in Augustdorf (Kreis Lippe). Hauptwaffensystem des Bataillons ist der Kampfpanzer Leopard 2. Nach dem russischen Angriff wurden nach Bundeswehrangaben 18 Kampfpanzer an die Ukraine abgegebenen. „Für diese werden wieder 18 in einer moderneren Variante nachbeschafft und sollen zwischen 2025 ausgeliefert werden“, sagte ein Bundeswehrsprecher dem „Kölner Stadt-Anzeiger“.
Auch andere Waffen und Ausrüstungsgegenstände der Bundeswehr wurden unterdessen in die Ukraine geschafft, aber noch nicht ersetzt. Früher besaß das Heer 600 Panzerhaubitzen, heute existieren noch etwa 80 oder 90. Die Heeresflugabwehr wurde komplett abgeschafft und soll jetzt neu aufgebaut werden. Teile der Truppe seien aber „sehr wohl kampftauglich“ und einsatzbereit, so Michelis: „Teile der Panzerbrigade 21 Lipperland übten kürzlich im Manöver ,Quadriga‘ die rasche Verlegung von Deutschland über Polen nach Litauen.“
Zivilschutz: Bunker sind zu teuer
Die Zeitenwende stellt nicht nur das Militär, sondern auch den Zivil- und Katastrophenschutz vor neue Herausforderungen. Bislang konnte die Bundeswehr dort wertvolle Hilfe leisten. „Künftig muss sich die Truppe wieder mehr auf ihren Kernauftrag der Landes- und Bündnisverteidigung konzentrieren. Land und Kommunen stehen in der Verantwortung, den Katastrophenschutz systematisch auszubauen, damit diese ihre Aufgaben auch alleine erfüllen können“, sagt SPD-Innenexperte Hartmann.
Beim Thema Zivilschutz wird oft über den Bau neuer Schutzräume geredet. Bunker neu zu bauen ist aber enorm kostenintensiv und langwierig. „Man würde zudem auch bei einem nennenswerten Zuwachs immer nur einen Bruchteil der Bevölkerung schützen können“, sagt Hartmann. Die Vorwarnzeit für einen Angriff durch russische Marschflugkörper dürfte wohl nur wenige Minuten betragen. Experten sind sich einig, dass das Geld in die Abwehr zuverlässiger Raketenabwehrsysteme deutlich besser investiert ist als in den Bau von Schutzräumen.
Grüne kam zum Spatenstich
Der Krieg in der Ukraine hat den Blick vieler Politiker in NRW auf die Verteidigungspolitik verändert. Als der Rüstungskonzern Rheinmetall im niederrheinischen Weeze zum Spatenstich für ein Werk einlud, in dem Teile des Kampfflugzeug F-35 gefertigt werden sollen, griff auch Vize-Ministerpräsidentin Mona Neubaur von den Grünen zur Schaufel. Das wäre vor Jahren noch undenkbar gewesen. „Zu einer Zeitenwende zählt, dass Industriepolitik eben auch Rüstungsindustrie bedeutet“, sagte die Wirtschaftsministerin.
Neben Rheinmetall ist Elettronica (Radartechnik) in Meckenheim ein großer Player der Sparte Streitkräfte und Verteidigung in der Region. Und eben Diehl Defence in Troisdorf. Dort wurde die Produktion unterdessen durch die Einführung eines Zwei-Schicht-Betriebs hochgefahren.