Bei den Corona-Demonstrationen geht es nicht um die Pandemie. Davon ist der Soziologe Harald Welzer überzeugt.
„Eine Sozialpädagogisierung ist fehl am Platz bei Menschen, die diesen Staat und diese Gesellschaft nicht haben wollen“, sagt er im Interview.
Herr Professor Welzer, der „Kölner Corona-Aufruf“ fordert dazu auf, sich auf – legitimen – Demonstrationen nicht mit Rechtsradikalen und anderen Extremisten gemein zu machen. Wie soll das gehen?Harald Welzer: Sie meinen, wie man sich raushält, wenn man ein ganz normaler Bürger ist? Eine Abgrenzung nimmt man räumlich vor und durch klare Bekundungen wie eben den Corona-Aufruf. Alle, die ihn initiiert haben und ihn unterstützen, sind damit eindeutig identifiziert und zugeordnet. Also kein Problem.
Aber das ist doch das Problem, dass die Unterstützer keines haben – weil klar ist, dass sie die Corona-Maßnahmen unterstützen. Aber was ist mit den Skeptikern?
Was Demonstrationen angeht, haben die das Pech, dass die Meinungsführer dort nun mal Querdenker, Neonazis, Reichsbürger und ähnliche Gruppierungen sind. Und von denen sollte man sich eben fernhalten. Das mag blöd klingen, ist aber so.
Dann sollen also die, die keine Extremisten sind, nicht demonstrieren dürfen?
Ich finde diese ganzen Überlegungen künstlich verrätselnd.
Was soll das heißen?
Wir sollten nicht eine künstliche Kulisse aufzubauen, vor der dann die Frage diskutiert wird, ob jedermann überall und zu jeder Zeit für seine Anliegen demonstrieren kann. Wir hatten nun einmal eine Pandemie, die diesem Ansinnen Grenzen gesetzt hat, und zu Recht. Aber das galt eben nicht nur Gegner der Corona-Maßnahmen, sondern auch für alle anderen.
Die Personengruppen, die da jetzt auf einmal das starke Bedürfnis verspüren, für Demokratie und Freiheit auf die Straße zu gehen, waren doch zuvor eher nicht zu sehen, wenn es um den Schutz der parlamentarischen Demokratie oder um die Menschenrechte in autokratischen, diktatorischen Regimes weltweit ging. Es gäbe für diese Menschen auch ohne Corona viele Gelegenheiten, für ihre angeblichen Anliegen einzutreten. Das ganze Geheimnis ist doch: Es geht überhaupt nicht um Corona. Das sind Vorwände, um diesen Staat und die Gesellschaft anzugreifen.
Wirklich? Nehmen wir jemanden, der die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht falsch findet und das öffentlich zum Ausdruck bringen will.
Dann soll er mit Gleichgesinnten eine Initiative gründen, eine Petition starten, einen Podcast publizieren – der Kreativität sind da kaum Grenzen gesetzt.
Aber wenn man das Gefühl hat, dafür gibt die Mehrheit keinen Raum?
Wenn man das Gefühl hat, sich in einer Minderheitenposition nicht artikulieren zu können, dann muss man die Interessenvertreter suchen, die das tun – aber eben nicht am Rand oder außerhalb des demokratischen Spektrums. So geht es doch allen, die etwas erreichen wollen. Es ist ein Missverständnis, dass sich meine persönliche Meinung in politisches Handeln umzusetzen hätte, nur weil ich eben diese Meinung habe.
Mich nervt dieser überindividualisierte Freiheits-Trip, der von der Verantwortung für Schwache und Bedürftige – hier die vulnerablen Gruppen – absieht und damit mit einem in der Moderne entwickelten Freiheitsbegriff bricht. Und mich nervt diese gepamperte Anspruchshaltung, die für jedes Bedürfnis nach einem „Zuständigen“ sucht, der es hier und jetzt befriedigt.
In der Demokratie braucht es Mehrheiten. So ist das eben. Und jedenfalls ist es nicht so, dass wir als einzigen Artikulationsraum die Straße haben, wo man sich seinen Protest aus lauter Verlegenheit dann doch zusammen mit Reichsbürgern kundtun muss.
Aber der Ärger einer nicht geringen Zahl von Menschen ist doch, dass sie sich in die rechte Ecke gedrückt fühlen.
Ich bitte Sie! Dieses Strickmuster ist so alt wie fadenscheinig. Als die Pegida-Bewegung aufkam, liefen genau dieselben Debatten: Das sind doch nicht alles Nazis! Heute heißt es: Das sind doch nicht alles Querdenker, und auch wenn sie hinter Reichsbürgern hermarschieren, sind sie deswegen noch nicht rechtsradikal. Und genau das ist falsch.
Warum?
Wer mit solchen Akteuren demonstriert und sich um ihre Plakate und Parolen versammelt, der weiß, was er tut.
Sie haben also kein Angebot an die, die sich zu Unrecht stigmatisiert fühlen?
Nein. Ich glaube, gesamtgesellschaftlich ist eine Sozialpädagogisierung fehl am Platz bei Menschen, die diesen Staat und diese Gesellschaft nicht haben wollen. Da bleibt nichts anderes übrig, als mit rechtsstaatlichen Mitteln gegen diese Leute vorzugehen.
Und individuell würde ich sagen: Wer sich als Demokrat fühlt und Freiheitsrechte – was immer man dann darunter versteht – verteidigen will, der sollte das tun, was die Unterstützer des Kölner Corona-Aufrufs tun: Flagge zeigen gegen die radikalen Minderheiten und damit bekunden, dass diejenigen mehr sind, die zur Demokratie stehen.
Die AfD-Klientel hat man lange gehätschelt und gesagt: „Das sind Verirrte, die wir zurückgewinnen müssen, weil sie im Grunde gar nicht rechts sind.“ Nein! Wer sein Kreuz bei der AfD macht und mit Reichsbürgern marschiert – der ist rechts. Und wenn jemand von sich sagt, „ich bin aber doch kein Nazi“, dann ist die Beweiskraft eines solchen Satzes gleich Null.
Selbst in der Nazi-Zeit hätte sich niemand von sich aus als „Nazi“ bezeichnet. Wenn also jemand sagt, „ich bin doch kein Querdenker“, aber dieselben Inhalte vertritt, dann gehört er oder sie leider eben doch dazu. Da sind Leute, die tragen ihre Kinder auf Demos und benutzen sie als Puffer gegen die Polizei. Was hätten wir für ein Menschenbild, wenn wir sagten, „ach, das sind bestimmt ganz vernünftige, nur eben gerade mal besorgte Bürger“.
Wer sein Demonstrationsrecht wahrnehmen will, hat in Pandemie-Zeiten ja schon von vorneherein ein Problem: Obergrenzen für Versammlungsgrößen, Abstandspflichten und so weiter. Als „Ausweg“ entstanden die „Corona-Spaziergänge“. Ist so ein subversives Moment nicht Teil eines zivilen Ungehorsams?
Doch, klar. Solche Strategien sind gut abgekupfert von der klassischen Linken. Natürlich ist es klassisch Teil des zivilen Ungehorsams, die Polizei auszutricksen.
Und nur wenn es von Links kommt, ist es gut?
Nein, gar nicht. Ich beschreibe nur die Übernahme von Aktionsformen. Aber für die Bewertung ist dann doch der Vergleich mit einer anderen Protestbewegung aus jüngerer Zeit interessant: Fridays for Future. Die Aktionen der jungen Leute haben in den vergangenen zwei Jahren unheimlich an Power verloren. Und warum? Weil sie sich an die Corona-Regeln gehalten und in Zeiten von Lockdown und Abstandsgeboten eben nicht mit einem trotzigen „Trotzdem!“ ihr vermeintliches Recht auf Protest in Anspruch genommen haben. Man könnte Corona fast als die Tragik dieser bis dato sehr erfolgreichen sozialen Bewegung bezeichnen.
Tragik?
Oder sagen wir: Paradox. Weil die „Fridays for Future“-Aktivisten „Freiheit“ nicht so verstanden haben, als ob sie sich alles herausnehmen, haben sie ihre Freitagsdemos sein gelassen. Sie haben es um eines höheren Gutes willen vorgezogen, sich rechtstreu zu verhalten. Das ist ein staatstragender Ansatz, der dazu geführt hat, dass ein an sich legitimer Protest nicht fortgesetzt wurde. Bitteschön, da sieht man den Kontrast zu den Corona-Denkern doch ganz deutlich.
Wie schätzen Sie die Warnung vor einer Spaltung der Gesellschaft ein?
Ich sehe sehr deutlich eine Radikalisierungstendenz im Lager der Corona-Gegner, Impfskeptiker, Querdenker und Esoteriker. Der Anteil der Bevölkerung, der dem zuneigt, ist insgesamt auch gar nicht ganz gering. Aber dem steht eine nach wie vor stabile, große Mehrheit entgegen, die der Pandemiebekämpfung im Grundsatz zustimmt. Im jüngsten NRW-Check der Tageszeitungen etwa haben sich beispielsweise nach wie vor knapp zwei Drittel der Menschen im Land für eine Impfpflicht ausgesprochen.
Aber nochmal: Wer gegen die Impfpflicht ist, der ist doch nun wirklich noch kein „Nazi“.
Nein. Ich kenne natürlich auch selbst Leute, die sich nicht impfen lassen wollen. Ich kann es rational nicht nachvollziehen, aber irgendwie nachempfinden, weil Ängste immer etwas sind, was man weder begründen noch verstehen muss. Aber niemand wird eingesperrt oder bestraft. Ich werde in Veranstaltungen häufiger attackiert, wie ich mich hinter die „Corona-Diktatur“ und den „Deep State“ stellen könne. Dann frage ich diese Kritiker zurück, ob sie sich vorstellen könnten, ihre Kritik an einem „diktatorischen Regime“ jetzt auf einer Veranstaltung in Belarus oder Myanmar öffentlich zu sagen. Nein, das können sie sich nicht vorstellen, weil sie dann nämlich sofort im Knast säßen und – wenn sie Pech hätten – auch noch gefoltert würden. Hier in Deutschland passiert das nicht. Also! Und realistisch betrachtet glaube ich übrigens noch nicht einmal, dass die vielgeschmähte Impfpflicht überhaupt noch kommt.
Zur Person
Harald Welzer (63) ist Sozialpsychologe und Soziologe. Er hat eine Honorarprofessur für Transformationsdesign an der Europa-Universität in Flensburg inne. Welzer ist auch Mitbegründer und Direktor der gemeinnützigen Stiftung „Futurzwei“, die sich alternativen Lebensstilen und Wirtschaftsformen widmet. (jf)
Soll das ein Einwand gegen die Vorbehalte der Gegner sein?
Hier würde ich sagen: im Gegenteil. Eine inkonsistente, unberechenbare und inkonsequente Politik gibt berechtigterweise Anlass zum Unmut. Wer Gesetze beschließt und kurze Zeit später erklärt, sie nicht umzusetzen, wie der bayerische Ministerpräsident Markus Söder das bei der Impfpflicht für die Pflegeberufe getan hat, der gibt den Staatsverächtern Zucker. Das ist Demokratiefeindlichkeit von oben.