Der Umgangston ist schärfer geworden. Der Hauptgrund dafür: das Verhalten der AfD. Das Benehmen der Fraktion beeinflusst den gesamten Diskurs.
Deutlich mehr OrdnungsrufeWie die AfD den Bundestag lächerlich macht
„Lügner“, „Heuchler“, „Kindermörder“ – es geht hoch her in den Debatten des 20. Bundestags. Eine gelegentlich pointierte Wortwahl gehört durchaus zum politischen Diskurs dazu. Doch der 20. Bundestag scheint einen besonders ruppigen Umgang zu pflegen: Stolze 110 Ordnungsrufe wurden vom Präsidium in der laufenden Wahlperiode erteilt – mehr als doppelt so viel im Vergleich zum vorherigen Bundestag.
Im Angesicht von derzeit 733 Abgeordneten wirkt das nicht sonderlich beeindruckend. Doch der historische Vergleich wirft ein anderes Licht auf die aktuellen Zahlen: Im letzten Bundestag, von 2017 bis 2021, waren es insgesamt 49 Ordnungsrufe bei 709 Abgeordneten. Das ist weniger als die Hälfte der in der aktuellen Wahlperiode erteilten Ordnungsrufe und die dauert voraussichtlich noch ein Jahr.
Nach 3 Ordnungsrufen muss der Abgeordnete die Sitzung verlassen
Im Vergleich zu den Jahren davor wird der Anstieg noch deutlicher: Im 18. Bundestag (2013 bis 2017) waren es nur zwei Ordnungsrufe, im 17. (2009 bis 2013) war es sogar nur ein einziger.
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Verstößt ein Abgeordneter gegen die Regeln, liegt es an der Sitzungspräsidentin oder dem Sitzungspräsidenten, für Ordnung zu sorgen. Bei besonders schweren Verstößen gegen die Geschäftsordnung, wie beispielsweise einer Beleidigung, kann die Sitzungspräsidentin einen Ordnungsruf erteilen.
Drei Ordnungsrufe pro Sitzung kann ein Abgeordneter maximal sammeln, bevor er oder sie die Sitzung verlassen muss. Solche Regeln sollen einen respektvollen Umgang mit den politischen Widersachern garantieren. Und nicht zuletzt die Würde des Parlaments schützen.
Ungleiche Verteilung der Ordnungsrufe
Aber woher kommt der massive Anstieg an Ordnungsrufen? Ein Blick auf die einzelnen Ordnungsrufe und wer sie erhalten hat, liefert Aufschluss. Denn an den 110 Ordnungsrufen sind nicht alle Fraktionen gleichermaßen beteiligt.
Spitzenreiterin ist die Alternative für Deutschland, die seit 2017 im Bundestag sitzt. 72 der 110 Ordnungsrufe gehen auf das Konto der Rechtsaußen-Fraktion – ein Anteil von knapp 66 Prozent. Gleichauf liegen die fraktionslosen Abgeordneten und die SPD-Fraktion mit je zehn Ordnungsrufen. Das ergab eine Recherche des RedaktionsNetzwerks Deutschland.
Dass ausgerechnet die AfD bislang mehr Ordnungsrufe gesammelt hat, als in den letzten fünf Wahlperioden insgesamt erteilt wurden, ist kein Zufall: „Das parlamentarische Verhalten der AfD zielt offenkundig auf eine Delegitimierung des Parlamentarismus und eine Verächtlichmachung der parlamentarischen Praxis“, erklärt Andreas Schulz, Generalsekretär der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).
Die AfD sei der Meinung, die restlichen Parteien im Bundestag hätten sich gegen sie verbündet, um sie von jeglicher Regierungsbeteiligung auszuschließen, führt Schulz weiter aus. „Diese ‚undemokratische Allianz‘ verfälscht aus Sicht der AfD den Wählerwillen und rechtfertigt es in der Wahrnehmung der AfD, den Parlamentarismus auch im Bundestag selbst zu bekämpfen.“
Das sei das Geschäftsmodell der AfD, sagt Petra Pau (Die Linke). Sie ist seit 2006 stellvertretende Bundestagspräsidentin und hat die Entwicklung der letzten Jahre in dieser Rolle miterlebt. Die AfD spreche nicht, um Argumente mit den Mitgliedern der anderen Fraktionen auszutauschen oder um die beste Lösung zu streiten, sondern versuche immer wieder, die Grenze des Sagbaren zu verschieben. Das Ziel dieser Strategie, so Pau: ein Lächerlichmachen der Demokratie.
Eine Vorgehensweise, die nicht von ungefähr kommt: Nach dem Vorbild der NSDAP im Reichstag der 1920-/30er-Jahre nutze die AfD alle Möglichkeiten, um zu stören: „Debatten und einzelne Redner werden gezielt durch Zwischenrufe, lautstarke Unruhen und Beleidigungen behindert. Eigene Debattenbeiträge werden dazu genutzt, das parlamentarische System und die ‚Altparteien‘ systematisch öffentlich zu diskreditieren“, so Schulz. Während die NSDAP das „System“ und die „Systemparteien“ anprangerte und offen verkündete, dem im Falle einer Machteroberung ein Ende zu bereiten, begnüge sich die AfD damit, eine „wahre“ Demokratie zu fordern, die den „Volkswillen“ repräsentiert.
AfD: Ordnungsrufe als Trophäen
Auch beim Blick auf die einzelnen Abgeordneten fällt die AfD besonders auf: Die Ordnungsrufe verteilen sich nicht gleichmäßig auf die Mitglieder der Fraktion. Die bislang meisten Ordnungsrufe erhielt Stephan Brandner: Insgesamt 17 Stück sammelte der Rechtsextremist in der laufenden Wahlperiode bereits. Auf Platz zwei folgt seine Parteikollegin Beatrix von Storch mit 14 Ordnungsrufen. Ebenfalls auffällig sind die beiden fraktionslosen Abgeordneten Matthias Helferich und Robert Farle, die bislang jeweils fünf Ordnungsrufe erhielten. Beide waren zuvor Mitglieder der AfD.
Von den insgesamt 49 Abgeordneten, die einen Ordnungsruf erhielten, bekamen 28 nur einen einzelnen. Je zwei Ordnungsrufe erhielten 14 Abgeordnete.
Die amtierende Bundestagspräsidentin, Bärbel Bas (SPD), beobachtet das mit Sorge: „Die von uns erteilten Ordnungsrufe werden teilweise als Trophäen gesammelt“, erzählt sie im Gespräch mit dem RND. Dabei handelt es sich keineswegs um eine rein quantitative Entwicklung – auch in der Qualität der Verstöße hat sich was verändert: Die Sprache sei härter geworden, vor allem diskriminierender, erklärt Bas. In den Sitzungsprotokollen finden sich verbale Entgleisungen wie „Kindermörder“, „migrantische Langfinger“ oder „feuchte Träume einer Extremistin“.
Das Benehmen beeinflusst vermehrt das gesamte Plenum: Der harsche Umgangston der AfD-Fraktion verleite zunehmend auch andere Parlamentarier, sich im Ton zu vergreifen, berichtet Linken-Politikerin Pau. 38 der 110 Ordnungsrufe gingen immerhin an die übrigen Fraktionen des Bundestags: „Manch einer gefällt sich darin, genauso scharf zu reagieren und gegebenenfalls Abgeordnete anzugreifen, was wiederum zu weiteren Ordnungsmaßnahmen führt.“
Aus dieser Entwicklung will das Präsidium nun Konsequenzen ziehen: Die Geschäftsordnung solle grundlegend überarbeitet werden. Dabei ginge es unter anderem um die „dringend notwendige Verschärfung des Ordnungsrechts“, so Bundestagspräsidentin Bas.
Aktuell berate man darüber, ob auch eine Anhäufung von Ordnungsrufen über einen längeren Zeitraum zu Konsequenzen führen müsse, erklärt Pau. Dies könne zu einer gewissen Befriedung beitragen oder einzelne Abgeordnete entlarven sich, dass es ihnen tatsächlich darum geht, die Funktionsfähigkeit des Parlaments einzuschränken.