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435 „Pflege-Igel“ im JahrTierschützerin aus Pulheim macht Schluss

Lesezeit 7 Minuten
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Karin Oehl aus Pulheim hat fast 50 Jahre lang Igel aufgepäppelt.

  1. Karin Oehl pflegt seit fast 50 Jahren verletzte Igel in ihrem Keller.
  2. Seit Renteneintritt ist auch ihr Mann voll eingestiegen. Er kocht schon mal das Mittagessen für die ganze Mannschaft.
  3. Anfang Januar will die 77-Jährige ihre Pforten schließen. Die Knochen machen nicht mehr mit.

Pulheim – Der Boden der Waschküche ist fast vollständig bedeckt mit Käfigen. An den Wäscheleinen hängen Fliegenfänger, an der Wand kleben Schautafeln mit Fotos von Igeln.

„Eines klipp und klar von vornherein“, ruft Karin Oehl. „Hier soll es nicht um mich gehen, sondern um die Sache.“ Die 77-Jährige weiß, was sie will. Und sagt das auch deutlich. Im gelblich-schwarz gemusterten Tigerpulli sitzt sie an ihrem Schreibtisch im Zimmer neben der Waschküche. 28 Igel habe sie momentan. Die kleine Schreibstube sei „sozusagen die Aufnahmestation“. Wenn die Tiere ankommen, würden sie gewogen, vermessen und begutachtet. „Das alles notiere ich dann, auch die Verletzungen oder eventuelle Krankheiten.“

Dokumentation wie im Krankenhaus

Eine regelrechte Dokumentation mit Medikamentengabe und Genesungsverlauf sei das, wie im Krankenhaus. „Auch was für Geräusche das Tier macht, wie hat es gefressen, wie sieht der Kack aus - das alles ist wichtig“, sagt Oehl. Schließlich sei sie anerkannt als tierheimähnliche Einrichtung und werde deshalb auch vom Veterinäramt kontrolliert.

Dem Igel, der regungslos und eingekugelt in ihren Armen hockt, streicht die Rentnerin vorsichtig über die Rückenstacheln. „Damit der sich wohl fühlt und aufmacht, auch mal sein Gesicht zeigt.“ Das Tier sei schwer verletzt gekommen, verstümmelt von einem Rasentrimmer. „Das Auge musste entfernt werde, die Nase wurde plastisch rekonstruiert.“ Wer so etwas denn bezahle? Die Tierärzte seien „sehr human bei solchen Fällen“. „Aber, na ja. Was dann noch übrig bleibt, bezahle meistens ich“, sagt Karin Oehl.

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Mieterin und Vogelschützerin Gabriele H.

Seit 49 Jahren kümmert sie sich ehrenamtlich um Igel. Wenn ein offensichtlich verletztes oder krankes Tier im Großraum Köln entdeckt wird, verschlägt es die Finder meist vor ihr Einfamilienhaus in Pulheim. „Das Elend der Tiere, die Hilflosigkeit der Finder“, sagt Oehl und schweigt einen Moment. „Solchen Leuten die Tür zu weisen, das geht doch nicht, das habe ich einfach nicht geschafft.“ Auch dann nicht, wenn sie schon längst keinen Platz mehr hatte

Alle zwei Stunden müssen die Babys gefüttert werden

Denn nicht nur stachelige Wildtiere bevölkern dieses Haus. Die Wohnung im ersten Stock wurde an eine „Kollegin“ vermietet. „Die kümmert sich um Vögel“, berichtet Oehl. In besten Zeiten hätte die Mieterin mehr als 60 Tiere betreut - gleichzeitig. Jetzt seien es „nur noch“ etwa 30. Viele „Erbvögel“ seien darunter: „Die Leute kaufen sich ein Tier, das ist langlebig, kann im Zweifel Jahrzehnte alt werden.“ Und wenn die Halter dann sterben oder den Vogel aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr versorgen können, dann kämen die Erben. „Die wollen dann gerne das Haus haben, aber den alten Vogel behalten, das wollen die nicht.“

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Jetzt aber soll Schluss sein. Zumindest mit den Igeln. „Ich hätte die 50 Jahre gerne noch vollgemacht, ab dem kommenden Januar aber nehme ich keine Tiere mehr an“, sagt Oehl. So nachdrücklich, als ob sie sich selbst noch überzeugen muss. Auf dem Tisch liegen Fotos von Igelbabys. „Das ist wieder so ein Fall. Verwaist, weil die Mutter von einem Rasenroboter zerstückelt wurde."

Wenn die Kleinen dann kommen, seien sie meist nur einen Finger groß. „Und dann heißt das Tag und Nacht alle zwei Stunden füttern“, sagt Oehl. „Das ist etwas, was ich körperlich so nicht mehr kann. Ich habe in allen Knopflöchern eine Arthrose, hatte einen Wirbelbruch und zwei Schlaganfälle, andere hätten schon längst das Handtuch geworfen.“

Zunächst ein Iltisbaby aufgenommen

Seit Herbst 1973 kümmert Karin Oehl sich um Igel. Ihr damals sechs Jahre Sohn hatte zuvor ein Iltisbaby mit nach Hause gebracht, das er neben der toten Mutter auf der Straße gefunden hatte. Das „kleine Knäuel“ wurde großgezogen und wieder ausgewildert. „Da kann ich Nachschub liefern“, sagte eine Bekannte, die sich schon länger um Igel kümmerte: „Ich bringe dir einen vorbei.“

Die Frau aber brachte vier, und so nahmen die Dinge ihren Lauf. Im Fernsehen hatte zudem der Tierfilmer Bernhard Grzimek seine große Zeit. „Ein Platz für Tiere“, ausgestrahlt von der ARD, war ein Straßenfeger. In einigen Sendungen wurde auch über Igelschutz gesprochen. Anschließend begann eine riesige Sammelaktion. Als es keine Zuschüsse mehr für die Tierrettung gab, hörten nach und nach die meisten Unterstützer auf.

Drei kleine Kinder, berufstätig und dann noch die Igel

„Karin aber ist geblieben“, sagt Oehl. Und das, obwohl es weiß Gott noch genug anderes zu tun gab. Drei kleine Kinder, zunächst als Arzthelferin und später als Krankenpflegehelferin halbtags berufstätig und jahrzehntelang Referentin des „Deutschen Roten Kreuzes“ (DRK), für das sie manchmal an bis zu sechs Abenden in der Woche Kurse abhielt: „36 Jahre lang.“

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Weil er sich sicher fühlt, zeigt der Igel sein Gesicht.

Die Energie, die für ein solches Pensum nötig war, muss riesig gewesen sein. Denn die Igel kamen ja noch oben drauf. 63 Tiere, die gleichzeitig im Haus und Garten versorgt wurden - das ist Oehls Rekord. Pro Jahr hat sie bis zu 435 Igel aufgenommen.

Mit den Igeln in den Urlaub

„Die Käfige mussten wir übereinanderstapeln, anders ging es nicht“, erinnert sich Oehl. Wenn es einmal im Jahr für acht Tage in den Urlaub ins Ferienhäuschen im Emsland ging, wurden die Tiere mitgenommen. Dies sei natürlich nur in der „igelarmen Zeit“, also im Frühsommer nach dem Auswildern gegangen, wenn nur noch einige wenige Langzeitpatienten da waren. Und Käfige, die gab es im Ferienhäuschen natürlich schon.

Der Ehemann kocht die Igel-Mahlzeit

Um sich zu entlasten „und wenn die Tiere aus dem Gröbsten heraus sind“, werde auch versucht, einige der Finder als Pfleger zu gewinnen, sagt Karin Oehl: „Die Menschen, die das machen, sind im Laufe der Jahre aber immer seltener geworden.“ Dies sei traurig, aber wahr, meint Christoph Oehl, der Ehemann. Er steht in der Küche, auf dem Herd blubbert es aus einem großen Topf. Zehn Eier, angebratenes Rinderhack und Hühnchenflügel, ein wenig Katzenfutter und dann noch etwas Weizenkleie: Gleich wird Oehl auftischen. Die stachelige Kundschaft hat Hunger.

„Alleine mit Zuckerwasser oder so einem Zeugs kriegen Sie die nicht satt“, sagt der 77-Jährige. Früher im Schichtdienst als Maschinenschlosser bei Ford, kümmerte er sich in seiner Freizeit um Kinder und Igel, wenn seine Frau bei der Arbeit oder beim DRK war. Jetzt als Rentner ist er „sozusagen voll eingestiegen“.

„Manchmal komme ich heulend aus dem Keller“

„Ich bin das Opfer“, sagt er und lacht. „Eher wohl die graue Eminenz, ohne die dies alles nicht möglich wäre“, entgegnet seine Frau. Nein, nein, schon klar, er sei doch gerne dabei, antwortet Christoph Oehl schnell. Es mache Spaß, zu helfen, wenn sonst niemand da sei. „Und das ist bitter nötig, ich sehe das Leid bei den Tieren doch“, ergänzt er. Einerseits. Andererseits aber: „Ich sehe auch, wie meine Frau sich quält. Manchmal kommt sie aus dem Keller hochgekrochen wie eine Schildkröte. Und kann nicht mehr A oder B sagen.“

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In der Schreibstube neben der Waschküche werden auch Medikamente verabreicht.

Sie schleppe sich manchmal „heulend“ nach oben aus dem Keller, meine Kraft reicht einfach nicht mehr“, bestätigt seine Frau, als das Telefon klingelt. Eine Ratsuchende, die wissen will, was mit einem Igel zu tun ist. Heute hätten schon zwei Leute angerufen, erzählt Karin Oehl, während ihr Mann das Telefonat übernimmt. Einer davon sei aus Straubing gewesen, und gestern habe sich sogar einer von der Schweizer Grenze gemeldet. Mittlerweile habe sich halt bundeweit rumgesprochen, dass im Zweifel die „Igel-Omi“ aus Pulheim angerufen werden kann, wenn sonst nichts geht.

Aus ganz Deutschland rufen die Finder an

„Die Telefonate können schon einmal eine halbe Stunde dauern“, sagt Oehl, als es an der Tür klingelt. Sandra, eine junge Frau aus Rheinbach, auch Tierschützerin, ist gekommen – und wird wie üblich gleich mit an den Küchentisch gebeten. Im blauen Käfig hat sie einen kleinen Igel, ein verletztes Tier, dem eine andere Bekannte nicht helfen könne. „Deshalb muss Karin jetzt ran, mit all‘ ihrem Fachwissen und Spezialkenntnissen“, sagt Sandra: „Es ist ein Desaster, wenn sie demnächst kein Tier mehr annimmt, das reißt in der Region eine riesige Lücke.“

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Wie gehts dem Tier? Karin Oehl untersucht einen Pflegeigel.

Ob sie denn wirklich sicher sei, dass am 1. Januar Schluss ist mit ihrer Mission? Na ja, sagt Karin Oehl. Das werde nicht einfach, sich aus dieser Umklammerung zu lösen. Es gebe noch so viel zu tun. Vor einigen Monatren war sie im Bundesumweltministerium, um sich für eine Überarbeitung der Artenschutzverordnung, ein professionelles Igelmonitoring und die Angliederung von ehrenamtlichen Pflegestationen an Tierheime zu fordern.

Ihr „Igelwissen“, etwa in Seminaren, könnte sie gerne ja noch weitergeben, sagt sie. Trotzdem, der Termin aber stehe. „Ab dem nächsten Jahr keine Neuaufnahme mehr. Und bis zum Frühjahr, nach dem Auswildern bis Mitte Mai, sind dann alle Igel weg“, sagt Karin Oehl zum Abschied: „Und schreiben Sie nicht so viel über mich, die Tiere sind wichtiger.“

Weiterführende Informationen zu Igeln finden Sie unter: www.pro-igel.de sowie www.tierfreunde-rhein-erft.de