Nike Lorenz von Rot-Weiss Köln führt Deutschlands Hockey-Frauen als Kapitänin zu Olympia. Im Interview spricht sie über Hoffnungen und Probleme.
Kölner Hockey-Nationalspielerin Nike Lorenz„Mein Tiefpunkt war bei Olympia in Tokio“
Frau Lorenz, am 26. Juli beginnen die Sommerspiele in Paris. Sie sind mit 27 Jahren zum dritten Mal bei Olympia dabei. 2016 in Rio Janeiro gab es für Ihr Team die Bronzemedaille gegen Neuseeland. 2020 in Tokio ist Ihr Team im Viertelfinale gegen Argentinien ausgeschieden. Sind mit Paris aller guten Dinge drei?
Ja, so fühlt es sich an. Die beiden früheren Olympischen Spiele waren für mich wirklich schwarz und weiß, ich habe komplett unterschiedliche Erlebnisse gehabt und sehr unterschiedliche Rollen im Team. Jetzt habe ich das Gefühl, dass ich angekommen bin – bei mir persönlich, aber auch in der Mannschaft.
Wie sehen Sie die Chancen auf eine Olympia-Medaille?
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Wir haben mit den holländischen Frauen die weltweit erfolgreichste Mannschaft vor der Nase. Wir sind zwar immer sehr nah dran, aber noch nicht dran vorbeigekommen. Dementsprechend sind sie die absoluten Gold-Favoritinnen. Aber auch sonst ist es im Frauen-Hockey schon deutlich enger geworden in an der Weltspitze. Wir sind jetzt das erste Mal Weltranglisten-Dritte, mit Australien und Argentinien noch vor uns. Direkt hinter uns ist Belgien, die haben auch eine krasse Entwicklung gemacht. Das sind die Hauptkandidatinnen – aber auch dahinter gibt es noch weitere 23 Teams, die sehr unangenehm sind.
Sie sind Kapitänin der Nationalmannschaft. Welche Aufgaben hat eine Kapitänin?
Einerseits trägt man die Binde während des Spiels und kommuniziert mit den Schiedsrichterinnen, ist aber auch ein Sprachrohr in der Öffentlichkeit. Ich persönlich möchte auf dem Platz möglichst viel Zuversicht und Verlässlichkeit ausdrücken.
Welche Opfer bringen Sie für den Sport?
Sehr viele. Man sieht ja oft nur die coolen Sachen, die Sportlerinnen erleben. Das ist aber nur ein Bruchteil. Ich habe unglaublich viele wichtige Ereignisse verpasst von Menschen, die mir am Herzen liegen. Dann der Lifestyle, die Ernährung, wenig bis kein Alkohol. Ich bin fast jedes Wochenende beschäftigt, kann nie mit Freundinnen in den Urlaub fahren. Der Jahresplan, den wir haben, ist echt brutal. Ich habe maximal eine Woche Pause zwischen Bundesliga und Nationalmannschaft. Eine Sommer- oder Winterpause gibt es bei uns nicht. Das ist tough auf die Dauer.
Kann man als Hockeyspielerin vom Sport leben?
Kommt sehr darauf an, in welchem Land und in welchem Verein man spielt. Ich habe es bei Rot-Weiss Köln schon ganz gut. Auf jeden Fall ist mein Gehalt als Bundesligaspielerin ein kleines Puzzleteil. Und ich werde von der Sporthilfe gefördert, weil ich Nationalspielerin bin. Vom Verband werden wir dafür nicht bezahlt. Dann hat man noch seine individuellen Sponsoren und Verträge. Das muss man sich wie ein Puzzle zusammenbauen. Wenn man schon länger spielt, kann man ein bisschen was rausholen. Trotzdem bleibt man als weibliche Topverdienerin immer noch weit unter den mittelmäßig verdienenden Männern.
Auf Ihrem Blog „Writing Out Loud“ schreiben Sie über Dinge, die Sie bewegen. In einem Eintrag thematisieren Sie Ihre jahrelangen Essstörungen. Woher rühren die?
Mein Tiefpunkt, was mein Essverhalten anging, war bei den Olympischen Spielen in Tokio. Ich habe es die Jahre davor aber auch schon gemerkt. Für mich wurde es zum Problem, dass ich immer von außen bewertet wurde. Oft wurde gesagt, dass ich fit aussehe, weil ich dünner war, obwohl ich deswegen gar nicht unbedingt fitter war. Mein Äußeres stand oft im Kontrast dazu, wie ich mich eigentlich fühle. Aber damit habe ich mich dann identifiziert. Häufig hatte ich den Anspruch, besonders athletisch auszusehen. Es werden sehr viele Fotos von einem bei Spielen gemacht, auch krasse Actionfotos. Wenn man dann mit dem Oberschenkel voll auftritt und das nicht so sportlich aussieht, wie man sich das vorstellt, hat mich das beschäftigt.
Reden Sie über Zuschauer am Spielfeldrand, Kommentare in den sozialen Medien?
Auch dafür gibt es Beispiele. Aber vor allem waren es Leute aus meinem engeren Umfeld, Trainer, Physiotherapeuten, Ärzte, die Kommentare abgegeben haben. Wenn der Trainer zu Dir sagt, „Wäre schon gut, wenn Du fünf Kilo weniger wiegst“, macht das was mit einem.
Müssten nicht gerade die Experten professioneller vorgehen, damit Sportlerinnen keine Essstörung entwickeln?
Eigentlich schon. Aber man darf nicht vergessen, dass genau diese Leute am meisten im Sport und im Leistungsgedanken verankert, vielleicht sogar gefangen sind. Für die ist es sehr vom Menschlichen getrennt, wenn sie sagen: Werde leichter, dann bist du schneller. Das ist selten böse gemeint. Aber es ist auch nicht wirklich umsichtig.
Wie viel Mut hat es Sie gekostet, öffentlich über Ihre Essstörung zu schreiben?
Das war die kleinere Mutprobe. Zu dem Zeitpunkt hatte ich mich viel mit meinen Mannschaftskameradinnen ausgetauscht, eine Therapie begonnen. Das hat mehr Mut gekostet. Meinem Partner und meinen Eltern davon zu erzählen, war der größte Schritt. Am Ende habe ich gemerkt, dass es auch ganz viele Frauen außerhalb des Leistungssports betrifft.
Wie hat Ihr Team reagiert?
Wenn ich gesagt habe, wie ich mich fühle, kam von den meisten: „Oh mein Gott, wirklich? Ich auch!“ Ich konnte das mit ihnen am besten teilen, weil ich da nicht so viel erklären musste: Was man sich selbst für einen Druck macht und wie bescheuert es ist, sich nach Spielen Fotos anzugucken und an vermeintlich problematische Körperstellen ranzuzoomen. Natürlich spielt Fitness eine große Rolle beim Leistungssport. Aber es gibt trotzdem dieses eine Ideal, das auch für Leistungssportlerinnen definiert wurde – und das ist unrealistisch. Genau wie das eine Körperideal für alle Frauen in unserer Gesellschaft unrealistisch ist.
Zur Person: Nike Lorenz (27), geboren in Berlin, spielt seit 2021 für den Hockey-Bundesligisten Rot-Weiss Köln. Im September 2014 feierte die Innenverteidigerin ihr Debüt für die A-Nationalmannschaft. 2016 gewann Lorenz mit Deutschland Olympia-Bronze, 2018 wurde sie mit der DHB-Auswahl Hallen-Weltmeisterin in Berlin. Ihr Partner ist Hockey-Nationalspieler Christopher Rühr (30).
Die britische Hockeyspielerin Tess Howard hat sich erfolgreich dafür eingesetzt, dass Frauen auch Shorts in internationalen Wettbewerben tragen dürfen und nicht nur Röcke. Wie stehen Sie zu der Debatte?
Ich finde es mega cool, dass Sportlerinnen sich darüber beschwert haben und das losgetreten haben und es jetzt die Freiheit gibt, zu entscheiden, was wir tragen wollen. Als deutsche Nationalspielerinnen dürfen wir seit einem Jahr entscheiden, ob wir mit Rock oder Hose spielen wollen. Mich hat an der Debatte nur ein bisschen gestört, dass es so dargestellt wurde, als würden wir Röcke nicht mögen. Wir im deutschen Team spielen im Rock, weil es für uns funktional das Beste ist. Hosen rutschen immer viel rum und hoch, außerdem tragen wir unterm Rock ja auch eine enge Hose. Wir fühlen uns so am sichersten, dass nichts zu sehen ist, von dem wir nicht möchten, dass es gesehen wird.
Sie haben in Tokio das Recht erkämpft, während der Spiele eine Regenbogen-Binde zu tragen. Damit haben Sie einen weltweiten Präzedenzfall geschaffen. Wie ist Ihnen das gelungen?
In der Olympischen Charta ist festgelegt, dass man sich nicht politisch äußern darf. Wir hatten kurz davor bei der Europameisterschaft die Regenbogenbinde getragen. Als ich erfuhr, dass ich die bei Olympia nicht tragen darf, war ich baff und habe angefangen, das zu hinterfragen. Schnell fand ich heraus, dass man beim Brechen dieser Regel als Athletin nicht vom Internationalen Olympischen Komitee (IOC) bestraft wird, sondern vom Deutschen Olympischen Sportbund. Da ist allerdings nicht transparent, wie man bestraft wird. Ich wusste also nicht: Werde ich persönlich disqualifiziert, wird die Mannschaft disqualifiziert, werden uns Punkte aberkannt?
Und dann?
Bin ich in den Austausch mit dem Sportbund gegangen. Kurz darauf hat das amerikanische Olympische Komitee den amerikanischen Athletinnen zugesagt, dass sie keine Strafe bekommen, wenn sie die Regenbogenbinde tragen. Dann habe ich unser Komitee gefragt, ob sie uns auch freisprechen würden. Das haben sie aber nicht gemacht im Vorhinein. Mir konnten keine genauen Folgen geschildert werden. Da war meine einzige Option, mich an die Presse zu wenden. Am Ende haben wir einen Antrag beim IOC gestellt. Es war das allererste Mal in der Geschichte der Olympischen Spiele, dass die Regel abgeändert wurde: Man kann jetzt offiziell Anträge stellen, um die Regenbogenbinde zu tragen. Das hätte ich nie erwartet. Man denkt ja nicht, dass man es am Ende packt, aber es hat uns riesig gefreut und da sind wir auch als Mannschaft definitiv stolz darauf.
Warum war Ihnen das so wichtig?
Mich hat extrem gestört, dass ich in einer Mannschaft spiele, in der wir die Werte der Regenbogenbinde vertreten und ich mir jetzt sagen lassen soll, dass wir das nicht tragen dürfen. In der Olympischen Charta stehen so viele Dinge drin, die für mich genau das ausdrücken, wobei es bei der Regenbogenbinde geht. Ich wollte das IOC in die Verantwortung bringen, dass sie die Dinge, die sie sich auf die Fahne schreiben, auch umsetzen.
Ist die Erlaubnis für Paris eingeholt?
Ja. Ich habe sehr häufig nachgefragt bei unserem Weltverband: Das IOC hat die Regeln nicht wieder verändert.
Worauf freuen Sie sich in Paris am meisten?
Das Olympische Dorf ist atemberaubend. Ich freue mich, dort anzukommen und alles erkunden zu dürfen. Die Mensa ist auch immer eine Erfahrung wert, weil sie riesig ist und man unglaublich viele Menschen trifft. Und ansonsten natürlich auf die Spiele. Olympia ist das Coolste, was wir im Hockeysport erleben dürfen.