Die Zuwanderung von Geflüchteten ist eines der großen Streitthemen unserer Zeit. 2015 setzte Angela Merkel Maßstäbe. Wir haben uns umgehört mit der Frage: Schaffen wir das nochmal? Und wie?
Wie schaffen wir das?„Es kann besser gelingen als 2015“ - Neun Vorschläge aus Politik, Wirtschaft und Kultur
„Wir schaffen das.“ Der Satz, mit dem Angela Merkel im Jahr 2015 zu Solidarität und Empathie mit Hunderttausenden Kriegsflüchtlingen aus Syrien aufrief, ist nicht verhallt. Einer der meistzitierten Aussprüche des vergangenen Jahrzehnts beförderte Zusammenhalt – und spaltete. Spätestens, als es ein halbes Jahr später in der Silvesternacht am Kölner Hauptbahnhof zu Hunderten sexuellen Übergriffen auch durch Geflüchtete kam, drohte die Stimmung zu kippen. Kübelweise Kritik wurde über die Kanzlerin ergossen, die rechtsextreme Pegida-Bewegung warnte vor der „Islamisierung des Abendlandes“ und hängte Merkel bei Demonstrationen symbolisch an einen Galgen.
Verfehlungen und vieler Probleme zum Trotz bewahrheitete sich Merkels Satz: Die Gesellschaft verkraftete die Aufnahme der Geflüchteten gut. Die Demonstrationen gegen Zuwanderung verloren im Osten an Kraft - in Städten wie Köln gab es sie kaum. Doch der Zuzug nach Europa und Deutschland im Speziellen ließ nicht nach: Immer mehr Menschen machen sich auf den Weg, weil ihre Heimatländer wegen Krieg, Klimawandel oder Armut keine Perspektive mehr bieten.
Die Wirtschaft war nach der Pandemie nicht mehr so stabil wie 2015
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine führte zu einer Aufnahme von rund einer Million Menschen und einer neuen Willkommenskultur– und führte gleichzeitig zu einer noch tieferen Entzweiung der Gesellschaft, die sich an immer neuen Umfragerekorden für die demokratiefeindliche AfD zeigen. Nicht zuletzt, weil die Wirtschaft nach der Corona-Pandemie und durch die Abhängigkeit von russischen Rohstoffen längst nicht mehr so stabil war wie 2015.
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Der Krieg in Israel und dem Gaza-Streifen, die Konflikte zwischen Serbien und dem Kosovo, die Herrschaft von Islamisten in Mali und Afghanistan – viele Krisenregionen schüren die Sorge vor mehr Zuwanderung. Statt optimistisch Solidarität vorzuleben, fragen sich viele Kreise und Kommunen heute bang: „Wie können wir das noch schaffen?“
In einigen – wenn auch wenigen - Städten in Nordrhein-Westfalen sind wieder Turnhallen mit Geflüchteten belegt. In Odenthal wurde eine Trauerhalle als Übergangsunterkunft vorbereitet. Im 1600-Einwohner-Ort Marmagen in der Eifel sorgte eine Notunterkunft mit 700 Geflüchteten für Überforderung und Unmut. In Köln macht am 1. Dezember wieder eine Notunterkunft des Landes in der Messe auf. Die Stadt hat angekündigt, über neue Flüchtlingswohnheime künftig erst dann zu informieren, wenn Klarheit über die Standorte herrscht – aus Sorge vor Kritik und „weil die Not groß“ sei, wie Sozialdezernent Harald Rau sagte.
Eher selten zu lesen ist, dass längst nicht alle Kommunen mit der Aufnahme von Geflüchteten überfordert sind. Dass es viele positive Beispiele gibt. Wie die Stadt Schleiden in der Eifel, wo eine Notunterkunft langfristig geplant wurde und Bürgermeister Ingo Pfennings (CDU) erleichtert ist, dass der Zuzug nicht zu mehr Zustimmung für die AfD geführt hat. Laut einer Umfrage der Hildesheimer Forschungsgruppe für Migrationspolitik fühlen sich aktuell 40 Prozent der Kommunen mit der Situation überfordert. Das heißt umgekehrt, dass eine Mehrheit sich nicht überfordert fühlt.
In Köln lebt eine syrische Familie seit 15 Jahren im Flüchtlingswohnheim
Gleichwohl sind die Herausforderungen gewaltig: In vielen Städten fehlen Wohnungen. In Köln gibt es seine syrische Familie, die seit 15 Jahren in einem Flüchtlingswohnheim lebt. Weil viele Menschen lange in Sammelunterkünften leben, ist zu wenig Platz für Neuankömmlinge. Ausländerbehörden haben zu wenig Personal, um Einbürgerungs- und Asylanträge oder Abschiebungen zu organisieren. Schulen und Kitas fehlen Plätze und Ressourcen zur Integration. Es gibt auch Geflüchtete, die straffällig werden und mit dem Grundgesetz fremdeln.
Schärfer geworden ist vor allem der Ton. Parolen im Netz schüren seit jeher Ängste, doch auch die öffentliche Rhetorik ist nach rechts gerückt. Kanzler Scholz kündigte im „Spiegel“ „Abschiebungen im großen Stil“ an. Kölns Sozialdezernent Rau bejahte im Spätsommer gegenüber der „Kölnischen Rundschau“ eine neue „Flüchtlingskrise“ – eine Wortwahl, die der Kölner Flüchtlingsrat scharf kritisierte, weil sie Sorgen verstärke statt „eine neue Willkommenskultur zu schaffen“, wie sich deren Geschäftsführer Claus-Ulrich Prölß wünscht.
„Die öffentliche Debatte verstrickt sich zu oft in ideologische Debatten über Obergrenzen, ineffektiven Binnengrenzschutz und unrealistische Abschiebeoffensiven“, sagt Migrationsforscher Gerald Knaus.
Lässt sich Zuwanderung auch positiv denken? So, dass es nicht vor allem um Menschen geht?
Die Ampel-Koalition will jetzt schneller abschieben. Die EU irreguläre Migration an den Grenzen stoppen. Ist eine Abschottung Europas und Deutschlands aber realistisch? Oder ist Migration – wie viele Forscher sagen – so komplex, dass sie in Teilen immer unkalkulierbar bleiben wird? Wie viel Zuwanderung verträgt das Land? Wie viel benötigt es dringend, um die Wirtschaftskraft des Landes zu erhalten und Renten zu sichern? Lässt sich Zuwanderung auch positiv denken? So, dass es nicht vor allem um die und uns geht – sondern um Menschen?
Der „Kölner Stadt-Anzeiger“ hat Menschen aus verschiedenen Bereichen der Gesellschaft um Antworten gebeten. Politikerinnen wie NRW-Integrationsministerin Josefine Paul (Die Grünen), Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker (parteilos) oder die Kölner Bundestagsabgeordnete Serap Güler (CDU); den für seine politische Haltung bekannten Kölner Musiker Stephan Brings, Migrationsforscher Gerald Knaus, Claus-Ulrich Prölß vom Kölner Flüchtlingsrat, Gabriele Patzke von den Sozialbetrieben Köln, Ingo Pfennings (CDU), Bürgermeister von Schleiden, und Alan Zibar, der 2014 aus Syrien nach Köln kam, heute in St. Augustin Wirtschaftsinformatik studiert, Deutschland dankbar ist, dass „das Land mir eine Chance gegeben hat“ und jetzt „bei der Digitalisierung der Bürokratie helfen möchte“. Die Frage an alle lautete: Wie schaffen wir das?