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„Ich war geschockt“Empörung über Umgang mit Missbrauchsfällen im Erzbistum Köln

Lesezeit 5 Minuten
Kardinal Woelki

Der Kölner Erzbischof Rainer Maria Woelki

Köln – Die Nachricht vom Umgang der Kölner Bistumsleitung mit einem Düsseldorf Pfarrer, der ein Kindergartenkind vergewaltigt haben soll, hat auch in den Gemeinden Erschütterung ausgelöst. „Als ich das heute Morgen gelesen habe, war ich geschockt“, sagte Martin Philippen, Vorsitzender des Düsseldorfer Katholikenrats, am Donnerstag dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Besonders betroffen gemacht habe ihn die Nachricht eines Mitglieds des Gremiums, das von Pfarrer Johannes O. auf die Erstkommunion vorbereitet worden war.

Der Missbrauchsfall des Geistlichen war dort bislang nicht bekannt. Diese Zeitung hatte ihn am Donnerstag öffentlich gemacht. Der 1929 geborene und inzwischen verstorbene Düsseldorfer Pfarrer soll einen Jungen im Kindergartenalter schwer sexuell missbraucht haben. Nach Anzeige des Falls hatte das Erzbistum dem Opfer 2011 eine Summe von 15 000 Euro als Entschädigung bezahlt. Dem Vatikan gemeldet wurde der Fall gleichwohl nicht. Dies ist auch für Kardinal Rainer Woelki brisant.

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Wie sein Vorgänger Kardinal Joachim Meisner soll Woelki im Jahr 2015 nach Sichtung von Personalunterlagen verfügt haben, dass den Missbrauchsvorwürfen gegen O. nicht weiter nachgegangen, keine kirchenrechtliche Voruntersuchung eingeleitet und der Fall nicht an den Apostolischen Stuhl in Rom gemeldet werde. Das Erzbistum begründete dies auf Anfrage mit dem damals „sehr verschlechterten Gesundheitszustand“ von O. sowie der Entscheidung des Opfers, „nicht an der Aufklärung mitwirken und sich keiner Konfrontation mit dem Beschuldigten aussetzen zu wollen“. Woelki kannte den 2017 in Düsseldorf gestorbenen O. seit seiner Ausbildungszeit zum Priester. Von den Vorwürfen wusste er nach Bistumsangaben in „allgemeiner“ Form bereits 2011.

„Kirche verliert an Vertrauen“

Philippen berichtete, vor einer Woche habe der Katholikenrat Kardinal Woelki angeschrieben, mit dem Entwurf eines offenen Briefs „konfrontiert“ und um ein klärendes Gespräch darüber gebeten, warum das Gutachten einer Münchner Kanzlei zum Umgang mit Missbrauchsfällen im Erzbistum nicht veröffentlicht werde. Anfang dieser Woche habe er erfahren, dass Woelki, Generalvikar Markus Hofmann und Rechtsanwälte den Pfarrgemeinde- und Dekanatsräten in einer dreiteiligen Videokonferenz Auskunft geben wollen. „In dieses Szenario spielt die neue Nachricht hinein“, sagte Philippen. Er sei „konsterniert.“

Es müsse sich „keiner wundern, dass die Kirche zunehmend an Vertrauen verliert“. Frank Heidkamp, Stadtdechant von Düsseldorf, ließ durch seine Sprecherin mitteilen, er wolle keine Stellungnahme abgeben.

Der Vorsitzende des Katholikenausschusses in der Stadt Köln, Gregor Stiels, erneuerte nach dem Bericht die Forderung des Gremiums nach einer „kirchlich-unabhängigen Wahrheitskommission“. Als Kardinal Woelki mitgeteilt habe, er werde das von ihm beauftragte erste Gutachten zum Missbrauch nicht freigeben, habe er um Vertrauen gebeten. „Aber Vertrauen ist nicht einfach da, es muss aufgebaut werden“, so Stiels. Dazu gehörten „Transparenz und Konsequenz“. Beides lasse die Bistumsleitung bisher vermissen. An deren Umgang mit den neuen Vorwürfen werde sich zeigen, „ob die Worte mit Inhalten und Taten gefüllt werden“.

Kirchenrechtler uneins in Bewertung

Auch die Bewegung „Wir sind Kirche“ äußerte sich „bestürzt“ über die neuen Vorwürfe gegenüber den Kölner Verantwortlichen. Wenn es stimme, dass der Fall nicht an den Vatikan gemeldet worden sei, müssten sie „zur Rechenschaft“ gezogen werden und sollten „ihre Ämter zur Verfügung stellen“. Eine unabhängige Untersuchungskommission und der Vatikan müssten die Vorgänge in den Blick nehmen. Das „hinauszögernde Verhalten“ Woelkis sei für die Betroffenen eine „große Belastung“. Nun sei es am Kölner Erzbischof „die Dinge offen auf den Tisch zu legen und gegebenenfalls auch sein Amt zur Verfügung zu stellen“.

Chronik eines Skandals

25. September 2018

Die Deutsche Bischofskonferenz stellt eine bundesweite Studie zu Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Geistliche vor. In den untersuchten Kirchenakten von 1946 bis ins Jahr 2014 fanden die Autoren der Studie Hinweise auf bundesweit 3677 Betroffene sexueller Übergriffe und 1670 beschuldigte Priester, Diakone und Ordensleute. Im Erzbistum Köln verzeichnen sie mindestens 135 Betroffene und 87 beschuldigte Priester.

13. Dezember 2018

Der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki beauftragt die Münchner Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) mit einem Gutachten, das klären soll, ob die Diözesanverantwortlichen in Köln bei Missbrauchsfällen im Einklang mit kirchlichem und staatlichem Recht handelten und ob deren Vorgehensweise dem kirchlichen Selbstverständnis entsprach. Rechtsverstöße und hierfür Verantwortliche seien möglichst konkret zu benennen, so der Auftrag.

10. März 2020

Das Erzbistum sagt die für den 12. März 2020 geplante Vorstellung des Gutachtens überraschend ab. Begründung: Die vorgesehene Nennung von Verantwortlichen müsse noch „äußerungsrechtlich“ abgesichert werden. Befürchtet werden Rechtsstreitigkeiten mit ehemaligen oder aktiven Entscheidungsträgern.

23. September 2020

Vorwürfe gegen den heutigen Hamburger Erzbischof Stefan Heße werden bekannt, nach denen er in seiner Zeit als Personalchef im Erzbistum Köln Fälle von sexuellem Missbrauch vertuscht haben soll. Die „Zeit“-Beilage „Christ&Welt“ veröffentlicht Teile des WSW-Gutachtens, in denen Stefan Heße eine „indifferente“ und „von fehlendem Problembewusstsein“ geprägte Haltung gegenüber dem Missbrauch Minderjähriger durch Kleriker vorgeworfen wird. Heße weist die Anschuldigungen zurück.

30. Oktober 2020

Das Erzbistum Köln teilt mit, dass das WSW-Gutachten nicht veröffentlicht werden soll. Dabei beruft es sich auf andere Gutachter wie den Kölner Strafrechtler Björn Gercke, wonach die Untersuchung „methodische Mängel“ enthalte. Gercke habe den Auftrag für ein neues Gutachten bekommen, das spätestens am 18. März 2021 veröffentlicht werden soll.

18. November 2020

Die inzwischen zurückgetretenen Sprecher des Betroffenenbeirats im Erzbistum Köln, Patrick Bauer und Karl Haucke, werfen Woelki in einem Zeitungsbeitrag „erneuten Missbrauch von Missbrauchsopfern“ vor. Die Zustimmung des Gremiums zur abgesagten Veröffentlichung des WSW-Gutachtens sei unter Druck gefallen und der Rat damit „völlig überrannt“ worden. (kna)

Deutsche Kirchenrechtler halten Woelkis Verhalten für einen Verstoß gegen das Kirchenrecht. Thomas Schüller von der Universität Münster sprach von einer „unentschuldbaren Verfehlung im Amt“. Wie die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) berichtet, sehen Kirchenrechtsexperten im Vatikan hingegen Spielräume. Woelki hätte den Fall 2015 nach Rom melden können, aber nicht unbedingt melden müssen. Demnach bestehe eine Meldepflicht, sobald sich ein Verdachtsfall durch diözesane Voruntersuchungen erhärtet. Woelki habe aber eine Voruntersuchung für unmöglich erachtet, weil der beschuldigte Priester O. dement und schwer krank gewesen sei und das Opfer nicht an der Aufklärung habe mitwirken wollen. Diözesen meldeten aber Verdachtsfälle oft schon vorher an die Glaubenskongregation, diese erteile dann zunächst den Auftrag zu einer Voruntersuchung vor Ort.