Cristian Macelaru ist der neue WDR-Chefdirigent. Er folgt auf Jukka-Pekka Saraste, einem Dirigenten, der das Orchester in den vergangenen Jahren stark geprägt hat.
Welche musikalische Agenda hat der Macelaru, der wie Saraste auch eine Vergangenheit als Geiger hat?
Ein Gespräch über heikle Komponisten, Ironie in der Musik und den anstrengenden Umzug von der USA nach Bad Godesberg.
Köln – Herr Macelaru, das sind jetzt die ersten Arbeitstage auf Ihrem neuen Posten in Köln. Wie waren denn Ihre Ferien?
Ferien? Sie belieben zu scherzen! Ich habe dieses Jahr keine Sommerferien gehabt. Wir, meine Familie und ich, mussten den Umzug von den USA nach Bad Godesberg managen – das ist jetzt fast abgeschlossen. Meine Kinder sind dort auch gut an ihrer Schule angekommen. Ansonsten hatte ich ja mein Festival für zeitgenössische Musik in Kalifornien und etliche Konzerte unter anderem in Paris. Nein, ich war wirklich ziemlich busy.
Sie proben derzeit mit dem WDR-Sinfonieorchester für Ihr Einstandskonzert am Freitag. Ihre ersten Erfahrungen?
Grundsätzlich habe ich als Dirigent die „Tendenz“ des Orchesters zu verstehen und zu akzeptieren – und dann den Punkt zu finden, an dem wir uns treffen. Wesentlich ist mir: Ich versuche immer herauszukriegen, warum Komponisten was in welcher Weise geschrieben haben. Und ich verändere – und das unterscheidet mich von anderen Dirigenten – nie das, was da in der Partitur steht. Weil das, was die Komponisten gedacht haben, in der Regel deutlich besser ist als das, was ich denke.
Und entsprechend richten Sie Ihre Probenarbeit aus?
Ja, ich probe jetzt sehr hartnäckig viele Details. Und ich habe – und das ist schön – tatsächlich den Eindruck, dass ich damit bei den Musikern offene Türen einrenne. Die wollen selbst wissen, was da wirklich auf der Seite steht, schauen in Dirigierpartituren. Sie neugierig zu machen, sie zu diesen Entdeckungen zu ermutigen sehe ich als meine wesentliche Aufgabe an.
Ihre Devise „Zurück zur Partitur“ in Ehren – vieles bleibt aber notwendig Auslegungssache, das Tempo zum Beispiel. Dieser Umstand begründet ja erst die Notwendigkeit von Interpretation ...
Auch Tempi sind selbst da, wo es keine Metronomangaben gibt, nicht willkürlich, sie ergeben sich zwingend aus der genau befragten Partitur und den dort formulierten Charakteren. Tempo meint ja nicht einfach Geschwindigkeit, sondern musikalischen Puls. Viele aber – Musiker wie Hörer – sind nicht mehr in der Lage, durch die Traditionen, die sich über einem Werk aufgeschichtet haben, dieses selbst zu sehen.
Zu Ihrer Agenda: Zur Aufführung gelangen Mahlers vierte Sinfonie und Dvořáks Te Deum. Eine ungewöhnliche Kombination. Beginnen wir mal mit Mahler ...
Mahler ist heikel, weil er eben mit dieser gewaltigen Deutungstradition beladen ist. Viele glauben zu wissen, wie er zu klingen hat. Zunächst: Mahler war Komponist und Dirigent, und die Frage stellt sich immer: Sind seine Partituranweisungen solche des Dirigenten oder des Komponisten? Da gilt es eine Balance zu finden. Meine spezielle Frage bei Mahler ist stets: Wie definiert man den „Charakter“, den jede Note, jede Phrase, ein ganzes Stück darstellt? In der Vierten geht es diesbezüglich vor allem darum, was an der Musik „ehrlich“ und was Ironie ist. Das muss gestisch klar werden, so dass das Publikum es unmittelbar versteht.
Wie spielt man Mahler so, dass Ironie hörbar wird – etwa im vierten Satz der Vierten, dem mit den „Narrenschellen“?
Durch besondere Betonung, die klarmacht: Hier wird etwas in Tönen gesagt, aber etwas anderes ist gemeint. Tatsächlich ist ja „Das himmlische Leben“ eine Erinnerung an ein kindliches Verständnis von Glück, das aber alptraumartig unterbrochen wird.
Es folgt Dvořáks Te Deum. Wie hängt das zusammen?
Alle religiösen Kompositionen Dvořáks haben einen spezifischen Klang, der stark an Schubert erinnert. Intrikate harmonische Durchgänge führen einen imaginären Wanderer zu immer neuen herrlichen Gefilden in der Natur – eine Imagination von Glück schlechthin. Beide, Mahler und Dvořák, sprechen von einem himmlischen Ort, der für Dvořák tatsächlich existiert, während er für Mahler eben ein Kindheitstraum ist.
Welches Statement wollen Sie persönlich mit diesem Programm formulieren?
Dass Musik ein Medium ist, das das Narrativ eines jeden individuellen Lebens auf eine „größere Linie“ bringen kann. Das kann, wie bei Dvořák, in einem engeren Sinne religiös sein, muss es aber nicht. Die Wurzel von menschlicher Spiritualität liegt für mich in der Kunst – und zwar in dem Sinne, dass diese Verbindung zuerst da war, vor der Religion.
Sie folgen Jukka-Pekka Saraste, einem Dirigenten, der das Orchester in den vergangenen Jahren stark geprägt hat – und sich von Ihrem persönlichen Stil stark unterscheidet. Ist das hinderlich oder eine produktive Herausforderung?
Ich versuche einfach, ich selbst zu sein. Und wenn ich dem Orchester zeige, wer und was ich bin, und das wird akzeptiert, dann wäre es ziemlich daneben, das zu verändern, indem man irgend wem nacheifert. Was ja nicht ausschließt, dass man sich im Lauf der Arbeit selbst verändert. Damit wir uns nicht missverstehen: Ich habe einige Saraste-Konzerte erlebt und fand sie spektakulär. Selbstverständlich baue ich auf dem auf, was er geleistet hat, und diese Vorgaben sind unstrittig sehr hoch.
Bei allen Unterschieden gibt es zwischen Ihnen beiden eine Gemeinsamkeit: die Vergangenheit als Geiger. Was bedeutet das?
Was mich anbelangt, kann ich nur feststellen: Als früherer Geiger spreche ich zu den Streichern wenig über technische Dinge. Ich sage ihnen einfach: Hier brauche ich diesen Klang – weich, transparent oder sonst was. Wie sie ihn herstellen, ist ihre Sache. Musik, die wir spielen, ist immer konkret, transportiert bestimmte Empfindungen und Gefühle, kommuniziert darüber mit dem Hörer.
Haben Sie für die kommenden Jahre eine bestimmte Agenda – bestimmte Stücke, bestimmte Komponisten, die sie vielleicht auch zyklisch „durchziehen“ wollen?
Ich habe in Philadelphia einen Beethoven-Zyklus gemacht, da spielten die Musiker irgendwann ungeprobt so, wie ich es haben wollte – weil sie das mittlerweile einfach wussten. Wenn so etwas irgendwann auch in Köln passierte, wäre ich sehr glücklich. Das hat selbstredend mit Epochenstilen und individuellen Stil-Ausprägungen der Komponisten zu tun. Es sollte klar werden, wie ich Beethoven, Brahms, Mahler, Ravel haben will. Ich möchte viele unterschiedliche Komponisten mit dem Orchester machen und dabei Spezialisierung vermeiden. Das entspricht einfach meinem künstlerischen Naturell.
Was ist mit den zeitlichen Eckpfeilern des „klassischen“ Sinfonieorchester-Repertoires – mit der Musik vor Beethoven und der zeitgenössischen Musik?
Die Programmierung der kommenden Jahre wird wohl stark meinen Dirigierstil reflektieren. Bach und Händel, Haydn und Mozart gehören genauso dazu, wie es die Zeitgenossen tun. Ich dirigiere derzeit etwa 150 Werke pro Jahr – davon sind 30 Prozent neue Musik, zehn Prozent Musik vor Beethoven, 40 Prozent 20. Jahrhundert und 20 Prozent 19. Jahrhundert. Zeitgenössische Musik ist tatsächlich wichtig für mich – nicht so sehr, weil sie Unterstützung braucht, sondern weil sie zu uns tatsächlich von unserer Zeit spricht – von der Zeit, in der wir leben.
Haben Sie eine Beziehung zur Pop-Sphäre?
Nein, wohl aber ein starkes Verhältnis zum Jazz.
Geiger und Dirigent – Stationen einer Karriere
Cristian Macelaru wurde 1980 in Rumänien als jüngstes von zehn Kindern geboren. Er lernte Geige und studierte in den USA. 19-jährig debütierte er in der Carnegie Hall und wurde jüngster Konzertmeister des Miami Symphony Orchestra. Sein Debüt als Dirigent hatte er 2010 an der Houston Grand Opera. Beim Chicago Symphony Orchestra sprang er 2012 für Pierre Boulez ein. Im selben Jahr erhielt er den „Sir Georg Solti Award“ für junge Dirigenten, 2014 folgte der „Solti Conducting Award“.
Intensive Zusammenarbeit verbindet ihn mit dem Philadelphia Orchestra, dessen Conductor-in-Residence er war und das er mehr als 150-mal dirigierte. Seit dieser Spielzeit ist er Chefdirigent des WDR Sinfonieorchesters.
Auf dem Programm seines Antrittskonzerts an diesem Freitag/Samstag, jeweils 20 Uhr, in der Kölner Philharmonie, stehen Mahlers vierte Sinfonie und Dvořáks „Te Deum“ (mit dem WDR-Rundfunkchor).
Neu ist die Videoreihe „Kurz und Klassik mit Cristian Macelaru“, bei der er Werkes aus seinen Programmen mit dem WDR Sinfonieorchester vorstellt. Seine Einführung zu Dvořáks „Te Deum“ macht den Auftakt, sie steht auf der Homepage des WDR und im Youtube-Kanal WDR Klassik bereit. (MaS)