Köln – In den Kölner Stadtteil Hahnwald verlaufen sich selten Menschen, die hier nicht hingehören. Er liegt für Spaziergänge zu entlegen und für Schaulustige, die sich vom Ruf des Prominentenviertels angezogen fühlen könnten, hält er kaum Attraktionen bereit. Die leer gefegten und von eher schmucklosen Häusern gesäumten Straßen liegen da wie müde Samstagnachmittage, nur dass hier niemand seinen Wagen wäscht.
An diesem Ort der gepflegten Monotonie lebt und arbeitet seit gut 25 Jahren Gerhard Richter, der berühmteste Maler der Welt, und genießt die Ruhe, die Hahnwald mit sich bringt. Man könnte ihn den idealen Bewohner dieses scheuen Stadtteils nennen, denn auch Richter, der am 9. Februar seinen 90. Geburtstag feiert, gilt vielen als verschlossen und auch sein grandioses Werk empfinden viele als so vielfältig, dass es schon wieder unpersönlich wirkt. Aber gerade darin liegt das Geheimnis seines Erfolgs.
Gerhard Richter malte banale Fotografien ab und machte sie unscharf
Richter hat ein Hahnwald-Bild gemalt, 1997 war das, in jenem unscharfen, scheinbar fotorealistischen Stil, mit dem sein Aufstieg begann und für den er vor allem bekannt ist. Es ist ein typischer Richter: ein banales, völlig belangloses Motiv, vermutlich bei einem Spaziergang fotografiert, später auf Leinwand gemalt. Wir sehen Büsche, Bäume und verschwommene Bauten, einen Zaun und einen Weg, der auf ein Auto zuführt. Ein bisschen Himmel ist auch dabei. Im Grunde ein Bild, das es niemals ins Familienalbum schafft. Geschweige denn auf eine Leinwand.
Man kann Gerhard Richters glanzvolle Karriere kaum ohne seine Anfänge verstehen, ohne das verzweifelte Gefühl, nicht zu wissen, wie man dem, was man liebt, der Malerei, etwas von sich zurückgeben kann. „Die Menschen sind von Richter fasziniert“, so Kasper König, ehemaliger Direktor des Kölner Museum Ludwig, „weil er dieser phänomenal erfolgreiche Künstler ist. Ich finde, was ihn ausmacht, ist seine enorme Fähigkeit zur Selbstkritik.“
In seiner Geburtsstadt Dresden hatte Richter, noch ein Bürger der DDR, ohne innere Überzeugung, aber durchaus erfolgreich plakative Wandbilder für den Sozialismus gemalt. Nach einem Besuch der Documenta 1959 in Kassel beschloss er, in den Westen zu gehen, dorthin, wo, so Richter, dermaßen „unverschämte“ Bilder wie die buchstäblich geklecksten von Jackson Pollock möglich waren. Hier angekommen wechselte Richter die Stile dann beinahe mit jedem Bild. Er malte mal abstrakt und mal figürlich und arbeitete sich an seinen Vorbildern ab, ohne das Gefühl zu haben, der Kunst etwas Eigenes hinzufügen zu können.
Am Nullpunkt angelangt, machte Gerhard Richter aus seiner Ratlosigkeit schließlich eine Tugend. Er beschloss, inspiriert von Abbildungen der Pop Art, alles abzustreifen, was nach der klassischen Vorstellung gute Malerei ausmachte, Dinge wie Individualität, Stil, Schönheit oder Fantasie. Er wollte malen und dabei so wenig malerisch wie möglich sein - und fand die Lösung in der Fotografie: „Ein Foto, sofern es nicht von Kunstfotographen gestaltet ist, ist einfach das beste Bild, das ich mir denken kann. Es ist perfekt, es ändert sich nicht, es ist absolut, es hat keinen Stil.“
Fotografisch zu malen, das ist allerdings etwas völlig anderes, als einfach nur Fotos zu kopieren. Um den Unterschied zu markieren, machte Richter seine Bilder nachträglich unscharf, indem er die Konturen vermalte oder mit einer feinen Bürste durch die nasse Farbe strich.
Gerhard Richter versucht den Schock der Fotografie zu überwinden
Im Grunde versuchte Richter mit all seinen Werken, den Schock der Fotografie zu überwinden. Also die schmerzliche Einsicht, dass sich die Welt durch bloßes Auslösen eines Mechanismus‘ wahrhaftiger darstellen lässt, als es ein Maler unter Aufbietung seines gesammelten Talents, Wissens und Empfindens kann. Der Zufall des Schnappschusses übertrumpft das suchende Auge des Malers: Was die größte Kränkung für die moderne Kunst sein sollte, wurde für Richter zum Neubeginn.
Als Gerhard Richter begann, seine fotografischen Bilder zu malen, galt die Malerei als überholt. Wer modern sein wollte, plante Happenings wie Joseph Beuys, zertrümmerte Klaviere, drehte Videos oder machte aus der Kunst gleich eine Denksportaufgabe. Für Richter war dieser oft beschworene Tod der Malerei einerseits ein willkommener Anlass, das Gegenteil zu beweisen, aber auch ein ewiger Zweifel, ob die Totengräber nicht vielleicht doch Recht hatten.
Nach seinen Fotobildern malte er Tafeln mit Hunderten kleinen Farbquadraten, wie sie ganz ähnlich als Reklame in Geschäften für den Künstlerbedarf herumstanden. Auch hier ging es Richter darum, alles Individuelle auszuschalten: Er verwendete ausschließlich industriell gefertigte Farben statt diese selbst zu mischen und reihte die Farbkästen nach dem Zufallsprinzip nebeneinander auf. Eines seiner berühmtesten Werke, das riesige Fenster im Kölner Dom, ist eine späte Folge dieser Idee.
Seit diesen Anfängen stellt Richter sein Metier beständig auf die Probe, etwa indem er eine ganze Serie mit Kerzen malt oder farbige Landschaften, die entfernt an die Romantiker erinnern, und dann wieder Bilder, die nichts als monotones, flaches Grau sind. Es gibt durchscheinende und gefärbte Glasscheiben von Richter (eine monumentale Kombination in Schwarz, Rot und Gold hängt im Deutschen Bundestag) und dann wieder seine „Rakelbilder“, abstrakte Gemälde, deren mit dem Pinsel aufgetragene Farbschichten er mit groben Werkzeugen bearbeitet.
Selbst in seine abstrakten Bilder baut Richter den fotografischen Zufall ein. Wenn er kiloweise Farben auf der Leinwand verteilt und darin mit dem Rakel, einem langen Holzstück, Schlieren zieht, lässt sich nichts wirklich planen. Richter sagt dazu, dass er sich dem Zufall überlasse, um ihn zu gestalten. Selbstredend ist das ein Widerspruch in sich, den man nicht erklären, aber vor den Bildern empfinden kann – und der geradewegs ins Herz der modernen Malerei führt.
Gerhard Richters bekannteste Auseinandersetzung mit dem fotografischen Medium ist sein RAF-Zyklus „18. Oktober 1977“. Auf 15 Gemälden malte er im Jahr 1988 Polizei- und Pressefotos nach, die außer den toten Terroristen das Innere von Zellen, Tatorte und Begräbnisszenen zeigen. Dieser seltene Bezug zur Politik trug ihm den Vorwurf ein, das tragische Ereignis auszubeuten. Dabei zeigt sich hier der springende Punkt seiner gegenständlichen Malerei, die Antwort auf die Frage, warum jemand sein halbes Leben damit zubringt, in tagelanger Arbeit nachzuahmen, was ein Apparat in Sekundenbruchteilen aufgezeichnet hat.
Neues Leben für die tote Wirklichkeit
Es ist der Wunsch, der im fotografischen Bild eingefrorenen, man könnte auch sagen: getöteten Realität durch die lebendige Berührung der Malerei neuen Atem einzuhauchen. Indem er die Fotografien in die ferne Nähe der Unschärfe entrückt, möchte er sie in etwas zurück verwandeln, was sich nicht eindeutig erschließt.
Für Richter sind die Grenzen der Malerei zugleich die Grenzen der Darstellbarkeit. In seinem letzten großen Projekt, den Birkenau-Bildern, malte er vier Fotografien ab, die ein Häftling des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau von diesem Ort gemacht hatte, um sie anschließend so lange zu übermalen, bis die historische Wirklichkeit unter einer abstrakten Oberfläche verschwunden war.
Ausstellungen und Bücher
In Köln und der Region sind derzeit zwei Museumsausstellungen mit Werken Gerhard Richters zu sehen. Anlässlich des 90. Geburtstags präsentiert das Kölner Museum Ludwig bis zum 1. Mai einen Großteil seiner eigenen Richter-Werke, darunter die weltberühmte nackte Ema, eine Treppe hinabsteigend, von der Kasper König gerne erzählt, sie könne immer noch konservative Moralvorstellungen kitzeln. Außerdem sind im Ludwig-Querschnitt durchs Richter-Werk zu sehen: ein abstrakter „Krieg“ aus dem Jahr 1981, „Fünf Türen“ aus dem Frühwerk, die „11 Scheiben“, zwei graue Glasscheiben und neun Offsetdrucke nach Fotografien.
Bis zum 24. April zeigt das Ständehaus der Düsseldorfer Kunstsammlung das berühmteste Spätwerk Gerhard Richters, den „Birkenau-Zyklus“ nach Fotografien, die Häftlinge heimlich im Konzentrationslager Birkenau gemacht haben. Zunächst malte Richter diese Aufnahmen in seiner frühen „fotorealistischen“ Manier ab, entschied sich dann aber dafür, diese im Stile seiner abstrakten „Rakelbilder“ zu übermalen. Begleitet und eingeleitet wird der Zyklus unter anderem von Richters späten Zeichnungen und einer Auswahl seiner übermalten Fotografien.
Bücher und Bildbände zu Gerhard Richter gibt es in Hülle und Fülle. Das Standardwerk zu Richters Leben und Werk ist Dietmar Elgers gut lesbares Buch „Gerhard Richter, Maler“, von Elger stammt auch der schöne Band zu Richters prägenden frühen Jahren, „Richter 61/62“. Reich bebildert ist die von Klaus Honnef verfasste Einführung im Taschen Verlag, dem Arbeitsalltag des Malers kommt man in „Gerhard Richter at Work“ nahe, einem schönen Bildband des Kölner Fotografen Benjamin Katz. Gleiches gilt für den Dokumentarfilm „Gerhard Richter Painting“ von Corinna Belz.
Ein bewegendes Kapitel aus Richters Familiengeschichte recherchierte Jürgen Schreiber für sein Buch „Ein Maler aus Deutschland“, auf dem Florian Henckel von Donnersmarcks eher missglückter Spielfilm „Werk ohne Autor“ basiert.
Der späte Birkenau-Zyklus hat etwas von einem persönlichen Schlusspunkt, denn die belastete deutsche Vergangenheit zieht sich als roter Faden durch Gerhard Richters Werk – wie auch durch sein Leben. Geboren 1932 in Dresden, wuchs er im NS-Staat auf und erlebte die Gängelung der Künstler in der DDR. Im Jahr 1961 ging er nach Düsseldorf an die Kunstakademie, gerade noch rechtzeitig vor dem Mauerbau. Im Westen wurde das eigene Familienalbum für Richter zum wichtigen Bilderfundus. Er malte seinen „Onkel Rudi“ in Wehrmachtsuniform, auch dies ein triviales Bild, das gerade in seiner Banalität universal wirkt: Man ahnt, dass es in jeder deutschen Familie einen „Onkel Rudi“ gibt.
Eine tragische Variante dieses Motivs spiegelt sich in Richters Gemälde „Tante Marianne“ aus dem Jahr 1965. Es zeigt Richter als Säugling gemeinsam mit seiner damals 14 Jahre alten Tante Marianne Schönfelder. Als Erwachsene erkrankte Schönfelder vermutlich an Schizophrenie, wurde im Alter von 21 Jahren in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen und dort Opfer des „Euthanasie“-Programms der Nazis. Sie wurde erst zwangssterilisiert und 1945 ermordet.
Als Richter dieses Bild malte, kannte er diesen Teil seiner Familiengeschichte. Aber er wusste nicht, wie sie mit einem ein Jahr zuvor entstandenen Werk verbunden war: „Familie am Meer“ zeigt seine spätere Ehefrau und deren Vater Heinrich Eufinger auf einem 1936 entstandenen Urlaubsfoto bei unbeschwerten Badefreuden. Erst 2004 erfuhr Richter durch die Recherchen eines Journalisten, dass sein Schwiegervater als NS-Arzt einer der Verantwortlichen für Zwangssterilisationen in Dresden war – und damit möglicherweise mitschuldig am Leiden und Sterben seiner Tante Marianne. Aus diesem Stoff machte Florian Henckel von Donnersmarck den Film „Werk ohne Autor“, sehr zu Richters Missfallen übrigens.
Mit dem Wissen über Richters Familiengeschichte erscheint die Urlaubsidylle im Richter-typischen Bleigrau noch einmal deutlich gespenstischer als die Gemälde, auf denen der Maler ganz offenkundig das Bilderreservoir des „Dritten Reichs“ zitiert: die „Bomber“, einen „Hitler“, oder „Onkel Rudi“. Gemeinsam ergeben sie eine Art kollektives Unbewusstes, in dem deutsche Geschichte und private Erinnerungen der Familie Richter eine unauflösliche Verbindung eingehen.
Richters Verbindung zu seiner Heimatstadt scheint nicht ganz so eng geflochten – wie alle Kölner lästert er zuweilen über deren Hässlichkeit. Sein Archiv gab er bereits vor Jahren an seine Geburtsstadt Dresden, seinen „Atlas“ aus Bildvorlagen nach München, seine private Sammlung kürzlich nach Berlin.
Das abstrakte Domfenster ist sein Geschenk an Köln
Als Trost bleibt unter anderem das abstrakte Fenster im Kölner Dom. Zunächst waren für dessen Südquerhaus sechs figürliche Darstellungen von Märtyrern des 20. Jahrhunderts vorgesehen, doch stattdessen lieferte Gerhard Richter einen Glasteppich abstrakter Lichtquadrate. Für sein aus 11 500 Glasquadern bestehendes Werk hatte er 72 Farben ausgewählt, die schon in den bestehenden Fenstern verwendet wurden, und ihre Verteilung auf der Fläche einem Zufallsgenerator überlassen - sofern man den Zufall als Schöpfer akzeptiert und nicht göttliche Vorsehung am Werk erkennt.
Eine Variante dieses Spiels mit der christlichen Lichtsymbolik findet sich auf Richters aktuellen Kirchenfenstern für das Kloster Tholey. Für diese spiegelte er einzelne Motive seiner wild-abstrakten „Rakelbilder“ an der Bildachse, wodurch, wie bei einem Rohrschachtests, scheinbar realistische Gestalten und Figuren aus der abstrakten Form entstehen. In Wahrheit legen wir aber nur Bedeutung in etwas, was in sich keine Bedeutung trägt.
Privatleben von Gerhard Richter bleibt Privatsache
Über Gerhard Richters Privatleben ist wenig bekannt, außer dass er in dritter Ehe mit der Künstlerin Sabine Moritz, verheiratet ist und vier Kinder aus seiner ersten und der aktuellen Ehe hat. Im Gespräch ist er freundlich und zugewandt, zugleich unkompliziert und reflektiert. Richter selbst hat einmal damit kokettiert, in jeder Hinsicht durchschnittlich zu sein, etwa in Körpergröße, Aussehen und Gesundheit. Ein Durchschnitt jedenfalls, zu dem man sich selbst nur zu gerne zählen würde.
Es ist wohl kein Zufall, dass ein Maler, der seinem Metier alles abverlangt, auch die Betrachter seiner Bilder an Grenzen führt. Gerhard Richter, den manche für einen kühl kalkulierenden Künstler halten, ist eigentlich ein Melodramatiker der Form. Er kann uns mit banalen Landschaftsbildern ergreifen und uns mit der zufälligen Verteilung leuchtender Farben auf einer Leinwand verzaubern. Es sind Bilder, die gerade deswegen berühren, weil sich ihr Schöpfer scheinbar jede Gefühlsregung versagt.