Köln – Fantasielosigkeit, Retro-Nostalgie, Geldmangel? Wenn heute zuweilen uralte Operninszenierungen aus der Kiste geholt und aktuell aufgemöbelt werden, ist ein Teil der Musikkritik geneigt, solche sinistren Motive am Werk zu sehen. Das ist auch so im Fall von Ruth Berghaus’ legendärer „Barbier“-Inszenierung von 1968, einem Dauerbrenner an der Berliner Staatsoper, der jetzt auch an der Kölner Oper zu sehen ist.
Besagte Kritik verheddert sich freilich in sich selbst, denn ihr Argwohn könnte schließlich genauso dem inszenierten Werk, Rossinis Oper aus dem Jahre 1816 gelten. Warum wird dieses eigentlich immer noch aufgeführt – auch etwa aus Retro-Nostalgie? Nein, die Reaktivierung historischer Inszenierungen ist, so sie nicht überhand nimmt (was ja nicht der Fall ist), nicht nur legitim, sondern auch begrüßenswert.
Eine hochinteressante Rezeptionskaskade
Im Fall des „Barbier“ ergibt sich solchermaßen eine hochinteressante Rezeptionskaskade mit den Stationen 1775, 1816, 1968 und 2022: Die über 200 Jahre alte Oper „interpretiert“ musikalisch eine gut 40 Jahre zuvor geschriebene Theaterkomödie, und „wir“ sehen sie in einer über 50 Jahre alten Regiedeutung.
Die genannten Jahreszahlen bezeichnen sehr unterschiedliche historische Verhältnisse, die sich der Interpretationsgeschichte allesamt eingeschrieben haben. In rezeptionsästhetischer Sicht stehen wir in einer fortlaufenden Tradition, zu der selbstverständlich auch die Inszenierungsgeschichte der Oper gehört. Und genau dies wird dem Bewusstsein des Zuschauers im Saal 2 des Deutzer Staatenhauses eindringlich vermittelt.
DDR-Regisseurin Ruth Berghaus bleibt der Propaganda fern
Vorbehalte könnte es sodann gegen die berühmte, aber auch umstrittene (1996 verstorbene) Regisseurin geben, die, obwohl sie es gekonnt hätte, nie ein böses Wort gegen die DDR fallen ließ. Indes zeigt gerade ihre „Barbier“-Arbeit, dass ein künstlerisches Werk sich auch von der empirischen Person der Schöpferin zu lösen vermag. Und affirmativ-propagandistisch ist an dieser Arbeit nun wirklich nichts – sie hält selbst einer scharf eingestellten ideologiekritischen Lupe stand.
Nicht Sozialismus, sondern Commedia dell’Arte in Bewegungsspiel und Kostümen ist, verbunden mit Tanz, Berghaus’ zentrales Motiv. Das allein mag im Fall einer Opera buffa naheliegend sein, aber es verbindet sich mit einem sehr spezifischen Ansatz, der dann freilich auch Theatervergangenheit aufscheinen lässt. Da gibt es zum Beispiel einen „Brecht-Vorhang“, der die Bühne in der Breite teilt und für jene Werkstatt-Atmosphäre sorgt, die das Staatenhaus eh nahelegt.
Illusionsbruch à la Brecht
Und insgesamt an Brecht (dessen Schülerin Berghaus war) erinnert die Neigung zum durchgehenden Illusionsbruch: Wenn die Figuren mitunter bewegungslos an der Rampe singen, dann nicht, weil da jemandem choreographisch die Puste ausgeht, sondern weil die Akteure aus ihrer Rolle heraustreten, distanznehmend auf sie verweisen.
Keinen Augenblick lang verleugnet auch Achim Freyers spartanischer Bühnenkasten in Weiß mit perspektivisch „falsch“ gezeichneter Häuserflucht und einem Innenraum mit nur zitathaft angedeuteter Ausstattung das, was Rossinis Oper von Haus aus eigen ist: ihren Charakter als eine schwebende, wirklichkeitsferne Spielwelt. In ihr bewegt sich das Personal im Extremfall nach dem Modus von Aufziehpuppen.
Wirbelnde Situationskomik lässt Inszenierung lebendig werden
Viel Raum bleibt allemal – mit dem Glanzstück der Gesangsstunde am Beginn des zweiten Akts – für die wirbelnde Situationskomik, die den Zuschauer auch heute noch in die Inszenierung hineinzieht und den bei mäßigen Aufführungen gerade dieses Werkes allfälligen Blick auf die Uhr erübrigt. Dieser Berghaus-„Barbier“ mag „historisch“ sein, auf eine ordinäre Weise überholt ist er nicht.
Rossini steigt und fällt freilich wie kaum ein anderer Opernmeister mit der Qualität des Singens und Spielens – mittelmäßige Abwicklung verträgt er weit schlechter als Mozart. Diesbezüglich allerdings geschieht in dieser Produktion – der letzten in der Intendantenzeit von Birgit Meyer – Großes.
Dirigent George Petrou überzeugt mit Gürzenich-Orchester
Das liegt ganz wesentlich am Dirigenten George Petrou (einem Experten der Oper des 18. und frühen 19. Jahrhunderts), der nicht nur geschmeidig und szenengenau die Rezitative am Hammerklavier begleitet, sondern vor allem den Sound des Gürzenich-Orchesters weithin auf jene feingliedrige, würzig-brillante Italianitá bürstet, die die Formation nicht gerade von Haus aus hat.
Damit inspirieren Orchester und Dirigent hör- und sichtbar auch die Bühne, wo man sich gleichfalls nicht lange bitten lässt. Im Gegenteil: Darstellerische und sängerische Performance sind in dieser Produktion größtenteils vom Feinsten. Es fällt schwer, einzelne Akteure herauszuheben, weil sich ihre Qualität gerade in der inspirierten Ensembleleistung bewährt.
Adriana Bastidas-Gamboas durchlebt spektakuläre Wandlung
Alasdair Kent als Almaviva überzeugt durch die leichte, agile Führung seiner Stimme, die er auch in der Höhe nicht berserkerhaft stemmen muss und die sich im Charakter den gefeierten südamerikanischen Belcanto-Tenören annähert. Enrico Marabelli als Bartolo bedient die Rolle des verschroben-habgierigen Alten komödiantisch-famos und ruft damit Erinnerungen an das Kölner Opernurgestein Carlos Feller wach. Mit kontrollierter Fülle und Agilität erfreut Wolfgang Stefan Schwaiger als Figaro, während Bjarni Thor Kristinsson als Basilio mit blasphemisch-prälatenhafter Anmutung in raumfüllend-satter Bass-Schönheit aufwartet.
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Spektakulär ist Adriana Bastidas-Gamboas Wandlung von ihrer Guerillera-Carmen zu Rossinis Rosina. Sie lässt, nicht nur in „Una voce poco fa“, ihre Koloraturen imposant rollen. Vielmehr gibt ihr in allen Lagen souveräner Mezzo der Partie jene Portion an Sehnsucht und Sinnlichkeit mit, die sie über die Buffa-Klischees erhebt. Nicht zu beanstanden der (wenig geforderte) Chor. Einhelliger Schlussbeifall für die letzte Saisonpremiere.