Köln – Sie ist ein Urgestein der Kölner Oper: Seit einem Vierteljahrhundert singt die Mezzosopranistin Dalia Schaechter am hiesigen Haus vorzugsweise die finsteren Frauenrollen des Repertoires: die Klytämnestra in der „Elektra“, die Kundry im „Parsifal“, die Ulrica im „Maskenball“. Warum immer so böse? „Mich interessieren Menschen“, sagte sie einmal im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“, „die einen Konflikt in sich tragen, deren Interesse nicht mit dem Interesse der Handlung übereinstimmt“.
Ihre sehr eigenen Wege ist die in Israel geborene Künstlerin, der 2008 der Ehrentitel „Kammersängerin“ zuteilwurde, immer schon gegangen. In den vergangenen Jahren hat sie sich abseits der Opernbühne in Programmen wie „Lieder und Lidele“ als engagierte Entdeckerin und Interpretin zumal hierzulande verschollenen jüdischen Liedguts profiliert. Corona-bedingt aufgeschoben, soll am 4. Juni dieses Jahres der Musiktheaterabend „Mazeltov, Rachel’e“ in Szene gehen. Er zeitigt die Zusammenarbeit mit dem an der Kölner Oper ebenfalls gut ausgewiesenen Gastregisseur Christian von Götz („Figaro“, „Capriccio“, „Je suis Jacques“), die sich auch in einer (durch die Corona-Pandemie wohl beförderten) soeben beim Label Ars Produktion erschienenen CD bewährt: Dort singt Schaechter 19 Lieder des polnisch-jüdischen Komponisten Mordechai Gebirtig (1877-1942), von dem nicht nur die Musik, sondern auch das Corpus der – deutschjiddischen und damit auch für den deutschen Durchschnittshörer weithin verständlichen – Texte stammt. Götz betätigt sich in dieser Aufnahme einmal nicht als Regisseur, sondern als – übrigens äußerst versierter – Gitarrenbegleiter.
Die panisch-trotzige Reaktion auf ein Pogrom
Mordechai Gebirtig? In Deutschland geläufig ist von ihm – ohne dass man es unbedingt mit dem Namen seines Verfassers in Verbindung brächte – allenfalls das Lied „Undzer shtetl brent“. Es reflektiert – ohne dass das Ereignis als solches benannt würde – die panische, aber auch trotzige Reaktion der Bewohner eines jüdischen Wohnbezirks auf einen Pogrom der christlichen Mehrheitsgesellschaft. Tatsächlich entstand das Lied 1936 in Reaktion auf einschlägige Ausschreitungen in einer Kleinstadt südlich von Krakau. De facto ist es eine bedrückende historische Prophetie. Schaechter im CD-Booklet: „Ich finde, dass Gebirtigs Lieder hier mehr Aufmerksamkeit verdient haben, nicht nur, aber auch unter dem Gesichtspunkt, dass er und seine ganze Familie Holocaust-Opfer waren.“
Das könnte Sie auch interessieren:
Gebirtig, der mit seiner Familie im Krakauer Stadtteil Kazimierz lebte, arbeitete im Hauptberuf als Tischler. Musikalisch war er Autodidakt, die Lieder, die seine Freunde notierten, komponierte er in seiner Freizeit auf einer Hirtenflöte. Die Themen seiner großenteils in der Zwischenkriegszeit entstandenen Lieder? Es geht um den Alltag, um Lust und Leid der Bewohner des Schtetl, es gibt da Kinderlieder, Trinklieder, Liebeslieder, Arbeiter- und Arbeitslosenlieder. Der Blick auf die Lebenswelt ist nicht lyrisch-romantisierend, sondern nüchtern, hart, rebellisch und aufsässig. Das Lied „Di Gefalene“ zum Beispiel ist der Monolog einer jüdischen „Traviata“: einer schwindsüchtigen Prostituierten, die eine bitter-wütende Lebensbilanz zieht. Immer wieder aber konterkariert der obwaltende Humor den deprimierenden Effekt solcher Sujets.
Gebirtig ist ein geistiger Verwandter von Bruno Schulz
Mit all dem wird Gebirtig zu einem geistigen Verwandten des Autors und Zeichners Bruno Schulz – die Parallelen reichen bis in die Todesumstände hinein: Schulz wurde 1942 auf offener Straße von einem SS-Mann im Lager von Drohobytsch, Gebirtig im nämlichen Jahr im Krakauer Ghetto von einem deutschen Besatzungssoldaten erschossen.
Wie ist Gebirtig musikhistorisch einzuordnen? Ein „seriöser“ Produzent von Kunstliedern war er nicht, eher könnte man ihn als polnisch-jüdischen Chansonnier, auch als „Songwriter“ und „Liedermacher“ avant la lettre klassifizieren. Die Musik ist – zwischen Volkslied, Ballade und Bänkelgesang angesiedelt – im Einzelnen sehr vielseitig, dennoch gibt es starke verbindende Elemente: Die Form des Strophenlieds erscheint immer wieder, die Deklamation ist zumeist syllabisch, es dominiert ein symmetrischer Periodenbau. Auffällig, aber selbstredend auch naheliegend ist das nahezu durchgängige Moll-Geschlecht: Weicht die Harmonik mal in die Dur-Parallele aus, so kommt die Rückkehr zur Ausgangstonart umso unweigerlicher. Das stiftet einen schwermütigen Grundton, der aber auch, wie gesagt, den rebellierenden Aus- und Aufbruch nicht ausschließt.
Schaechter nimmt die geforderte stilistische Kurve mit Bravour
Klar, dass Schaechter hier auf verlorenem Posten stünde, kultivierte sie ihr Ethos als Opernsängerin. Und siehe da: Die stilistisch geforderte Kurve nimmt sie mit Bravour: Sie streift das pathetische Bühnen-Vibrato ab, langt in Farb- und Tongebung beherzt zu. Wiewohl die Kunstanstrengung nicht zu verkennen ist, wirkt die Performance allemal herzlich und spontan. Nicht Lady Macbeth ist hier unterwegs, sondern – immer wieder – die singende Göre. Und Schaechter ist eine Meisterin der Rollenanverwandlung: Röhrt es hier rauchig-besoffen in der Alttiefe, so berührt dort helle Mädchenhaftigkeit; es tanzt sich beschwingt und „entgleist“ in zornigen Sprechgesang. Hört man die Lieder „Mayn Yovl“ und „Shlof shoyn mayn kind“ direkt hintereinander, hält man es kaum für möglich, dass da jeweils dieselbe Sängerin am Werk ist.
Götz ist dabei ein kongenial-inspirierender Begleiter. Und auch er schlägt nichts über einen Leisten: Da gibt es rezitativische Arpeggien, Walzerrhythmen und synkopische Anspitzungen – und stets aufs Neue jenen harten Groove, der den Liedern ihr unverwechselbares Gepräge gibt. Eine tolle CD abseits des Mainstreams – was kann dem Publikum in diesen Tagen Besseres passieren!
„Nu gey – ikh bleyb“ – Yiddish Songs by Mordechai Gebirtig; Dalia Schaechter, Christian von Götz (Ars Produktion)