Köln – „Liebe ist kein Bild“, sagt Agnès, die Frau. „Liebe ist eine Tat.“ Dieser lapidaren Einsicht kann sich auch der „Boy“, ein junger Buchillustrator, kaum widersetzen. Eigentlich ist er ins Haus gekommen, um den Lobpreis ihres Ehemannes, eines reichen Großgrundbesitzers, auf ein prachtvoll illuminiertes Pergament zu bannen. Nun wird er ihr Geliebter. Die Verführerin ist allerdings selbst Verführte – verführt von einem Trio kalt moralisierender Engel, die das Ehepaar in eine grausame, am Ende tödliche erotische Versuchsanordnung locken. Der Boy ist einer von ihnen.
Eine Legende aus dem französischen Mittelalter, die auch Eingang in Boccaccios „Decamerone“ fand, diente als Vorlage für George Benjamins Oper „Written on Skin“. Das Stück wurde 2012 in Aix-en-Provence uraufgeführt und seither von zahlreichen Bühnen nachgespielt.
Partitur hat großen Anteil am Erfolg
Ein großer Teil dieses Erfolgs geht fraglos auf das Konto der hochvirtuos komponierten, ungemein farb- und leuchtkräftigen Partitur, die viele Einflüsse der Moderne aufgenommen hat und doch in jeder Note ganz ihrem Komponisten gehört.
Nicht geringer ist das Raffinement auf der textlich-szenischen Seite: Hier wurde ein mittelalterliches Moralspiel mit dem psychologischen Seziermesser bearbeitet, ohne ihm seine archaische Wucht zu nehmen. Sittenstrenge und die Lust an abgefeimter Grausamkeit spielen auf beklemmende Weise zusammen – eingefasst in eine episch-dramatische Misch-form, bei der die Handelnden zugleich Erzähler sind und auch die Szenenanweisungen singen.
Benjamin Lazar ist Regisseur in Köln
Der französische Regisseur Benjamin Lazar hat das gut 90 Minuten dauernde Stück für die Kölner Oper in eine karge Sandlandschaft gestellt, die nur von ein wenig totem Gestrüpp aufgelockert wird. Im Hintergrund schließt sich die Spielfläche des klein besetzten Orchesters an – wobei man über die Raumverhältnisse im Staatenhaus letzt-lich nicht viel sagen kann. Die Premiere der Neuproduktion fand coronabedingt ausschließlich online statt, im virtuellen Raum des Kamerabildes.
Die Inszenierung musste coronabedingt auf die unmittelbare Begegnung der Personen verzichten, und damit auch auf jenen intensiven Hautkontakt, der bereits im doppeldeutigen Titel der Oper steckt. Benjamin Lazar hat diese äußere Vorgabe sehr stimmig auf die innere Konstellation der Figuren projiziert.
Erotische Spannung im Raum
Man sieht einem Spiel der Annäherung und Entfernung zu, das die Personen zugleich in sich verschließt und zum Objekt wechselseitiger Beobachtung macht. Zugleich ist der weite Raum zwischen den Figuren mit hoher erotischer Spannung geladen: eine kalte Glut, die der Natur des Stückes entspricht. Oper vor der Kamera hat ihre Tücken: Das Sängergesicht in Nahaufnahme erzählt oft mehr von Gesangstechnik und hilfesuchenden Blicken zum Dirigenten als von Charakter und Emotion.
Das ist hier anders. Magali Simard-Galdès (Agnès), die zugleich mädchenhaft hell und lyrisch reich singt, zeigt die allmähliche Entfaltung einer sexuell selbstbestimmten Persönlichkeit in einem männlich dominierten Machtgefüge. Mit der ausgezeichneten Gambistin Margaux Blanchard steht ihr auf der Bühne eine instrumentale Seelenstimme zur Seite.
Autorität und Angst
Den Großgrundbesitzer, im Stück zynisch „The Protector“ („der Beschützer“) genannt, gestaltet Robin Adams mit strenger Autorität; innerlich indes bebt er sicht- und hörbar vor Angst. Cameron Shahbazi, der „Boy“, bleibt auch als unmittelbar Beteiligter der Handlung stets ein engelhafter Strippenzieher. Der exzellente Countertenor wirkt dabei durchaus viril, es fehlt die fachtypische Androgynität, die hier wohl auch nicht gefragt wäre.
Judith Thielsen und Dino Lüthy sind die beiden anderen Engel. Sie schlüpfen zwischenzeitlich in die Rolle böser Verwandter, die dem Ehemann das Gift der Eifersucht ins Ohr träufeln – ein pointiert agierendes Duo mit hoher Buffo-Qualität.Benjamin Lazars Ausstatterin Adeline Caron hüllt alle Personen in schwere, hochwertige Mittelalter-Kostüme, die aber nach und nach gegen moderne Abend- und Alltagskleider vertauscht werden und schließlich (wieder der Titel) wie abgestreifte Häute am Boden liegen.
Musik war vorproduziert
Eine Entscheidung, die nicht wirklich überzeugt: Zwar verweist das Libretto immer wieder explizit auf die Gegenwart, aber das Drama vollzieht sich doch mit hermetischer und geradezu fatalistischer Konsequenz – da bricht nichts, schlägt nichts um.
Wie der Messiaen-Schüler George Benjamin dieses Drama instrumental flankiert, grundiert und reflektiert, machte das Gürzenich-Orchester unter der Leitung von GMD François-Xavier Roth in jedem Takt mit exquisiter Klangschönheit deutlich. Wer von der unanfechtbaren musikalischen Perfektion des Streams beeindruckt war, sollte indes wissen, dass es sich dabei um ein vorproduziertes Video und nicht etwa um eine Live-Übertragung handelte.
Birgit Meyer bat um gedrückte Daumen
Die Oper Köln hat diese Tatsache zwar im Vorfeld nicht verschwiegen, am Abend selbst aber doch mit Fleiß bemäntelt – da meldete sich Intendantin Birgit Meyer aus einem von nervös wuselnder Vor-Premieren-Stimmung erfüllten Opernfoyer und erbat gedrückte Daumen für ein gutes Gelingen.
Immerhin: 735 Tickets, so meldet stolz die Oper, wurden für diesen ersten Stream in der Geschichte des Hauses ausgegeben. Den Preis dafür konnten die Online-Besucher gleichwohl selbst bestimmen. So wird es auch am Freitag bei der Premiere von Korngolds „Die tote Stadt“ gehandhabt. Dann allerdings überträgt die Oper live – vielleicht weniger perfekt, aber mit allen Risiken und Unwägbarkeiten, wie sich das für richtiges Theater gehört.
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Ob die Produktion von „Written on Skin“ noch live erlebt werden kann, steht derzeit in den Sternen, ebenso, ob und in welcher Weise das aufgenommene Material über die Online-Premiere hinaus zugänglich gemacht werden kann. Lohnen würde es sich ohne Zweifel.