Auch in Deutschland mehren sich antisemitische Übergriffe. Jüdinnen und Juden leben wieder in Angst. Was jede und jeder tun kann.
Solidarität mit Jüdinnen und Juden„Es reicht schon ein Brief mit dem Satz ‚Ich fühle mit euch‘!“
„Nie wieder ist jetzt“, erklärte Außenministerin Baerbock am 18. Oktober auf dem Kurznachrichtendienst X (ehemals Twitter). In der Nacht hatten zwei Vermummte brennende Molotowcocktails auf ein jüdisches Gemeindezentrum in Berlin geworfen. Die Brandsätze verfehlten das Gebäude. Aber die Angst bleibt: Mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Holocaust sollen hierzulande wieder jüdische Einrichtungen brennen. Und das nach einem Ereignis, das jüdische Communitys weltweit als eines der dunkelsten, wenn nicht als das dunkelste seit der Shoa begreifen: dem Massaker der Hamas an mehr als 1400 Menschen in Israel am 7. Oktober. Seither herrscht im Nahen Osten Krieg, Israels Militär weitet seinen Einsatz im Gaza-Streifen aus und die internationale Gemeinschaft ringt um eine gemeinsame Position.
Währenddessen haben auch in Köln so wie in ganz Deutschland die antisemitischen Übergriffe zugenommen. Jüdische Menschen bringen ihre Kinder nicht mehr in die Kita oder Schule, weil sie sich angesichts der weltweiten Gewaltaufrufe gegen sie sorgen, dass etwas passieren könnte. Sie zögern, in die Synagoge zu gehen. Nie wieder, mit diesem Gedanken wachsen Menschen in diesem Land auf. Wie also könnte, wie sollte die Solidarität mit Jüdinnen und Juden derzeit aussehen?
Was können Kölnerinnen und Kölner konkret tun, um sich solidarisch zu zeigen?
„In der Vergangenheit gab es Lichterketten. Nicht-jüdische Menschen sind einen Tag lang mit der Kippa durch ihre Heimatstädte gelaufen, um sich solidarisch zu zeigen. Wo bleiben solche Aktionen jetzt?“ fragt Abraham Lehrer, Vizepräsident des Zentralrats der Juden und Vorstandsmitglied der Synagogen-Gemeinde Köln. „Verstehen Sie mich nicht falsch, Politikerinnen und Politiker, die Gewerkschaften, die Arbeitgeberverbände und auch viele kulturelle Institutionen haben sich wunderbar positioniert. Aber wir vermissen den Zuspruch aus der Gesellschaft heraus.“ Wie nach dem Terroranschlag auf eine Synagoge in Halle (Saale) 2019, als danach viele Kölnerinnen und Kölner auch vor der Synagoge ihrer Stadt Blumen niederlegten und Kerzen aufstellten. Das sei auch diesmal geschehen, sagt Lehrer, aber in einem auffällig kleineren Ausmaß.
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Patenschaften für israelische Jugendliche, Fake News entgegentreten
Dabei wäre es gerade jetzt so wichtig, Kontakt mit den jüdischen Gemeinden aufzunehmen. Angesichts der angespannten Sicherheitslage sei das zwar noch schwieriger als sonst, besonders wenn jemand eine Synagoge besuchen wolle. „Aber niemand hält Sie doch davon ab, eine E-Mail zu schreiben oder einen Brief abzugeben, in dem einfach nur steht: ‚Ich denke an euch, ich fühle mit euch‘“, sagt Lehrer. Auf der Webseite der Synagogen-Gemeinde Köln gibt es zum Beispiel ein Kontaktformular.
Auch Ruth Schulhof-Walter fragt sich seit dem 7. Oktober: „Wo seid ihr jetzt?“ Nach dem Angriff der Hamas bekam sie Nachrichten aus ihrem direkten Bekanntenkreis, Freunde, Nachbarn, die wussten, dass sie, die Tochter von Holocaust-Überlebenden, in Israel geboren worden war. „Was in meinem Privatleben passiert ist, hat mich sehr berührt. Aber von der gesamten Öffentlichkeit hätte ich mir mehr Unterstützung gewünscht“, sagt Schulhof-Walter.
„Die wenigsten hier haben jemals einen Juden oder eine Jüdin live gesehen“
Noch bis vor zwei Jahren hat die 69-Jährige in der Verwaltung der Kölner Synagogen-Gemeinde gearbeitet, sie zählt zu den Stimmen der Stadt, die unermüdlich über jüdisches Leben informieren, inzwischen mit dem von ihr mitgegründeten Verein „Jüdisches Leben in Europa“. Ein Anliegen, sagt Schulhof-Walter, die überzeugt ist, dass das fehlende Mitgefühl vor allem mit Unwissenheit zu tun hat. „Auf über 80 Millionen Menschen in Deutschland kommen höchstens 150.000 Jüdinnen und Juden, die wenigsten hier werden also jemals eine Person aus der jüdischen Community live gesehen haben. Aber sie urteilen trotzdem über uns“, sagt Schulhof-Walter. Auch ihr wurde während einer Synagogen-Führung schon unterstellt, sie zahle als Jüdin ja sowieso keine Steuern und interessiere sich nur für ihre Religion. „Und wir werden natürlich alle immer für die Politik Israels verantwortlich gemacht, selbst dann, wenn wir – wie ich – in Israel gar kein Wahlrecht haben.“
Schulhof-Walter wünscht sich ein Zeichen, vergleichbar mit dem ersten „Arsch-Huh“-Konzert im Jahr 1992. Kölner Musiker hatten damals zum Protest gegen rassistische Übergriffe durch Neonazis aufgerufen, an die 100.000 Menschen kamen auf den Chlodwigplatz.
Eine weitere Idee: „Die Menschen in Israel sind höchst traumatisiert von dem, was geschehen ist, viele haben Freunde und Angehörige verloren. Es ist doch denkbar, dass Kölnerinnen und Kölner nun Patenschaften übernehmen. Dass wir zum Beispiel Jugendliche von hier mit Jugendlichen in Israel via Chat zusammenbringen, um ihnen zu zeigen: Ihr seid nicht allein in dieser Situation“, sagt sie. Das Gleiche gelte für Schulen, für Sportvereine, allen voran für die Partnerstädte, auch sie könnten zum Beispiel über die Botschaft Kontakt nach Israel aufnehmen. „Den Menschen dort hilft es schon, wenn man sie via Videochat einfach mal ein, zwei Stunden von dem Grauen ablenkt, dass ihnen widerfahren ist.“ Das sei gelebte Solidarität, sagt Schulhof-Walter.
Solidarität aus der muslimischen Community, jüdische Kulturveranstaltungen besuchen
Im Team ihres Vereins „Jüdisches Leben in Europa“ sitzt auch Andrei Kovacs, er ist der Geschäftsführer. Er beobachtet mit Sorge, dass die Menschen zunehmend schon jetzt zu vergessen scheinen, was sich am 7. Oktober in Israel ereignet hat – und dadurch noch anfälliger werden für Fake News in den sozialen Medien. „Ein erster Schritt der Solidarität besteht darin, sich zu informieren, Falschinformationen auch im privaten Umfeld richtigzustellen, Zivilcourage zu zeigen“, sagt Kovacs. Wer antisemitische Hetzschriften findet, egal ob online oder offline, sollte sie sofort melden. In Köln geht das bei der Meldestelle für antisemitische Vorfälle des NS-Dokumentationszentrums. Wie auch Schulhof-Walter wünscht sich Kovacs noch mehr öffentliche Solidarität von den muslimischen Communitys und klare Stellungnahmen nach außen und nach innen, zum Beispiel in die Moschee-Gemeinden hinein. Er habe immer noch die Hoffnung, dass Muslime mehrheitlich nicht hinter dem Terror der Hamas stünden, sagt Kovacs.
Die Kölner Sozialarbeiterin, Autorin und Musikerin Bella Liebermann lebt mit ihrem international aufgestellten Klezmer-Ensemble Kol Colé die Verständigung, die sich viele schon so lange wünschen. „Die Menschen aus der Band waren die ersten, die mir nach dem Hamas-Anschlag ihr Mitgefühl ausgesprochen haben“, sagt sie. Darunter auch ein Musiker aus Syrien. „Aber es fehlt mir an Entschlossenheit der Regierung und Bürger gegen den importierten Antisemitismus zu kämpfen, digital und real, an Objektivität der offiziellen Nachrichten, an aktiver öffentlicher Solidarität, an breiterer Unterstützung von jüdischen kulturellen Veranstaltungen“, fügt sie noch hinzu.
„Ich habe keine Angst“, sagt Liebermann, die sich nicht einschüchtern lassen will. Dass nun Kulturveranstaltungen aus Sicherheitsgründen abgesagt werden, hält sie für die falsche Strategie, denn eigentlich sollten die Menschen jetzt erst recht zu Veranstaltungen aus der jüdischen Community gehen. Bei einem Solidaritätskonzert würde Liebermann auf jeden Fall auftreten. Sie appelliert an alle, die dabei helfen können, sie zu kontaktieren.
Schulhof-Walter und Kovacs haben trotz der Drohungen gegen Jüdinnen und Juden ebenso vor, die Arbeit mit ihrem Kulturverein auszubauen. Auch, wenn Themen wie Sicherheit und der zunehmend eskalierende Krieg im Nahen Osten nun natürlich im Vordergrund stünden, sagt Kovacs. Dennoch ist er überzeugt, dass es langfristig auch dazu gehört, jüdisches Leben sichtbarer zu machen, um gegen Antisemitismus zu kämpfen. Deswegen will der Verein „Jüdisches Leben in Europa“ bald ausführlich über Veranstaltungen in den jüdischen Communitys informieren, Bildungsangebote und auch Räume für Debatten schaffen.
Das moderne jüdische Leben und seine Vielfalt zeigen, Begegnungspunkte schaffen
Und auch wenn solche Einladungen derzeit schwieriger seien, denn je: Natürlich könnte grundsätzlich jede und jeder an jüdischen Festtagen wie zum Lichterfest Chanukka in der hiesigen Weihnachtszeit das öffentliche Lichterzünden der jüdischen Gemeinde besuchen, Fragen stellen, Solidarität bekunden, sagt er. Natürlich nur, wenn diese Veranstaltung aus Sicherheitsgründen dieses Jahr überhaupt stattfinden könnten. „Der Blick auf uns ist vor allem durch die ältere und jüngere Geschichte geprägt, aber wir wollen das moderne jüdische Leben und seine Vielfältigkeit zeigen, eine Normalität, ein Zusammenleben schaffen“, sagt Kovacs. „Kein wir und die anderen.“
Am 9. November wird in Deutschland übrigens wieder an die Reichspogromnacht 1938 und die Verfolgung und Vernichtung der Juden im Nationalsozialismus erinnert, auch in der Kölner Synagoge findet eine Gedenkveranstaltung statt. Einer von vielen möglichen Tagen, um seine Solidarität zu zeigen. Damit „Nie wieder!“ nicht nur ein Versprechen bleibt.
Orte der Begegnung
Die Deutsch-Israelische Gesellschaft Köln e. V. ruft nach eigenen Angaben gemeinsam mit jüdischen und nichtjüdischen Organisationen und den Parteien des Kölner Stadtrats für Sonntag, den 5. November um 14 Uhr, zu einer israel-solidarischen Kundgebung auf dem Roncalliplatz auf.
Ebenfalls am Roncalliplatz startet am 8. November um 18 Uhr ein Schweigegang in Gedenken an die Pogromnacht am 9. November 1938 und in Solidarität mit den jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern heute. Der Gang wird organisiert vom Evangelischen Kirchenverband Köln, dem Katholischen Stadtdekanat und dem Katholikenausschuss der Stadt.
Bella Liebermann spielt am 5. November um 15 Uhr ein Konzert mit ukrainischen Musikerinnen im Kulturbahnhof Jülich. Weitere Termine stehen auf der Webseite der Band KolCole.de. Liebermanns Bücher „Das Kupfermeer“ und „Eine Rose auf dem Weg“ gibt es zum Beispiel in der Lengfeld'schen Buchhandlung.
Auf der Webseite der Synagogen-Gemeinde Köln werden regelmäßig Veranstaltungen angekündigt, zum Beispiel die Podiumsdiskussion „Jüdische Kultur in Deutschland“ am 13. November in Kooperation mit der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. Wegen der Sicherheitslage können Termine kurzfristig abgesagt werden.
„Der Dialog und die Begegnung sind uns am allerwichtigsten“, sagt Felix Schotland aus dem Vorstand der Gemeinde. Deswegen würden auch die Synagogen-Führungen derzeit weiter angeboten, nach Voranmeldung. Auch das Restaurant „Mazal Tov“ im Synagogen-Gebäude kann nach Anmeldung weiterhin besucht werden.
Die Synagogen-Gemeinde nimmt zudem Spenden entgegen, für die Menschen in Israel, und auch für die, die jetzt kriegsbedingt nach Deutschland kommen.