2010 ließ man sich den Namen „Vizekusen“ rechtlich schützen. Den Anspruch auf diesen Titel könnte Bayer 04 diese Saison verspielen.
Bayer 04 thront an der SpitzeEinst Plastikklub, bald Deutscher Meister?
Die Stadt Leverkusen stellt Fremde vor viele Rätsel. Das beginnt mit ihrem Namen, der zurückgeht auf den bergischen Apotheker und Pionier der industriellen Fabrikation des Farbstoffs Ultramarin, Dr. Carl Leverkus. Auch wird Besuchern bei der ersten Ansicht des inneren Leverkusen nicht klar, ob die Stadt ein Teil des Bayer-Werkes oder das Werk ein Teil der Stadt ist. Die Ratlosigkeit im Umgang mit dieser 1930 aus den Gemeinden Wiesdorf, Schlebusch, Steinbüchel und Rheindorf gegründeten Kunststadt gipfelt allerdings seit Jahrzehnten in der Frage: Warum wird Leverkusen niemals Meister? Warum?? Niemals???
Das historische Versagen des Werksklubs Bayer 04 im Angesicht großer Fußball-Titel zu Beginn des Milleniums hat dazu geführt, dass er sich den Spottnamen „Vizekusen“ 2010 rechtlich schützen ließ. Es naht jedoch der Moment, da diese Groteske in den Archiven des deutschen Patentwesens verschwinden kann. Die Nachfahren der ehemaligen Betriebssportgruppe des Chemiewerkes scheinen im Begriff, nach elf Jahren lähmender Übermacht des FC Bayern München die Zeit der Titel-Monotonie in der Bundesliga zu beenden. Das alleine wäre sehr bemerkenswert. Noch viel erstaunlicher ist, was diese Entwicklung mit dem gesamten deutschen Fußball macht: Er verneigt sich – von wenigen natürlichen Nachbarschaftsrivalen wie dem 1. FC Köln einmal abgesehen – dankbar vor dem Werksklub und preist dessen Fußballkunst.
Bayer thront ungeschlagen an der Spitze
Vor dem Heimspiel gegen den FSV Mainz 05 am Freitagabend thront Bayer 04 in 22 Partien ungeschlagen über der Bundesliga und steuert mit acht Punkten Vorsprung auf Bayern München seiner ersten deutschen Meisterschaft entgegen. Nebenbei ist der Werksklub ins Halbfinale des DFB-Pokals spaziert und hat in der Europa League im Schongang das Achtelfinale erreicht. Der Traum von drei Titeln ist real. Und er speist sich aus einer Aura, die den seit Jahrzehnten respektabel erfolgreichen, aber sportlich unvollendeten Klub, nie umgeben hat.
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Es ist der Fußball. Schöner Fußball. Leichter Fußball. Atemberaubender Fußball. Dargeboten von einer Gruppe talentierter junger Männer mit einem Anführer, der im Oktober 2022 direkt aus dem Traumland des Sports in die spröde Welt der Chemiestadt am Rhein hinabgestiegen ist. Der Baske Xabier Alonso Olano (42), kurz Xabi genannt, hat Bayer 04 verzaubert. Er erschien vor knapp eineinhalb Jahren als Weltstar, der als Spieler alles erreicht hatte und als Trainer nichts. Der Weltmeister, Europameister, Champions League-Sieger und Landesmeister - das meiste davon mehrfach mit verschiedenen Vereinen - übernahm einen verzweifelten Klub auf Platz 17 der Bundesliga. Und beendete die Saison mit Glück auf Platz sechs. Noch im Mai 2023 war nicht absehbar, was dann passieren würde.
Xabi Alonso gab Bayer das schönste Gesicht seiner Geschichte
Xabi Alonso sieht aus wie ein Model, spricht wie ein Diplomat, denkt Fußball in Perfektion und hat die Gabe, trotz seiner Aura nahbar und demütig zu erscheinen. Obwohl er nach nur drei Jahren Trainer-Erfahrung mit dem B-Team seines Jugendklubs Real Sociedad San Sebastian mit nichts als seiner Idee vom Spiel in Leverkusen erschien, hat er Bayer 04 das schönste Gesicht seiner Geschichte gegeben und alle zu seinen Gefährten gemacht. Längst haben alle großen Vereine der Welt ein Auge auf ihn geworfen. Vor allem seine Ex-Vereine FC Liverpool und Bayern München, die nach dem Aus von Jürgen Klopp und Thomas Tuchel im Sommer dringend einen Trainer wie ihn benötigen werden. Aber Xabi Alonso hat, im exakten Wissen darum, seinen Vertrag bei Bayer 04 bis 2026 verlängert.
Das wäre allerdings eine bedeutungslose Zahl, wenn ihm der Architekt des aktuellen Erfolges nicht einen Kader auf den Trainingsplatz gestellt hätte, der vor Lust und Qualität nur so funkelt und derzeit einzigartig ist in Deutschland. Der frühere Bayer-Kapitän und Nationalspieler Simon Rolfes (42) betreibt als Sport-Geschäftsführer das Aufspüren von Talent, das den Augen der Konkurrenz noch verborgen blieb, mit großer strategischer Hingabe und mehrt damit fortgesetzt das Vermögen seines Arbeitgebers. Er war 2020 zur Stelle, als der 1. FC Köln sein junges Genie Florian Wirtz nicht erkannte. Er verpflichtete Spieler wie Jeremie Frimpong und Piero Hincapié, als sie hier noch niemandem ein Begriff waren. Und in diesem Sommer machten Rolfes und seine Scoutingabteilung ihr Meisterstück, als es ihnen gelang, unter anderem den fantastischen Alejandro Grimaldo ablösefrei aus Lissabon zu verpflichten, den bulligen Mittelstürmer Victor Boniface für rund 20 Millionen aus St. Gilloise und den geborenen Anführer Granit Xhaka für gemessen an seinem Wert überschaubare 15 Millionen Euro vom FC Arsenal.
Daraus machte Xabi Alonso ein Team, dessen Verwundbarkeit erst noch bewiesen werden muss. Die Folgen des Fußball-Rausches sind dramatisch. Der einst kleine Werksklub hat inzwischen mehr als 45.000 Mitglieder, was über einem Viertel der Bevölkerung seiner Stadt entspricht. Gemessen daran müsste der 1. FC Köln, mit rund 132.000 Mitgliedern aktuell in den Top 10 der größten Fußballvereine der Welt, mehr als 250.000 Mitglieder haben. Mit 12,5 Millionen Followern auf den klubeigenen Social-Media-Kanälen ist Bayer 04 hinter Bayern und Dortmund mit großem Abstand vor RB Leipzig die Nummer drei in Deutschland. Allein in dieser Saison hat der Klub eine Million neuer Follower aus aller Herren Länder gewonnen.
Inzwischen ist die Zahl der verkauften Dauerkarten auf mehr als 20.000 gewachsen
Diese Entwicklung freut besonders den Klubchef Fernando Carro, der sich seit seinem Amtsantritt 2017 besonders um die internationale Wirkung von Bayer 04 Klubs kümmert und durch unablässige Netzwerkerei ein wichtiger Mann im höchsten Gremium des europäischen Klubfußballs, der ECA geworden ist. Noch verlässlicher als digitale Abdrücke ist als Gradmesser der konkreten Euphorie die Zahl von Fans, die ihrem Team auf Auswärtsfahrten folgen. Regelmäßig schöpfen die Bayer-Anhänger das gesamte Kartenkontingent aus. In der Bay-Arena gelingt es dem stimmgewaltigen Anteil der Gäste nicht mehr wie früher, die Einheimischen einfach niederzubrüllen.
„Bayer 04 im Jahr 2024 ist einfach sexy, aber hier ist auch eine echte Verbindung gewachsen“, sagt Meinolf Sprink, der seit fast einem Vierteljahrhundert Teil der Klubführung ist und aktuell als Direktor Fans/Soziales den direkten Kontakt zu den Anhängern pflegt. Er macht Beobachtungen, die es zuvor nicht gab. „Wir haben bei einer Stadionkapazität von 30.210 Zuschauern inzwischen 21.400 Dauerkarteninhaber, es ist abzusehen, dass es bald Wartelisten gibt.“ Und in anderen Stadien geschieht, was zuvor vor allem in der Bay-Arena geschah: „Ich sehe bei Toren von uns immer öfter Menschen aufspringen, die nicht im Auswärtsblock sitzen. Und ein großer Teil der neuen Fans kommt nicht aus Leverkusen und Umgebung.“
Diese Leute mussten allerdings erst einmal die Hymne lernen, mit der die Fans seit fast zwei Jahrzehnten vor jedem Heimspiel ihr Leverkusener Lebensgefühl artikulieren. Lange wurden sie belächelt für Strophen wie: „Zwischen Bayer-Werk und Wasserturm, an Wupper, Dhünn und Rhein, da schlägt unser Herz, für unseren Verein.“ Und: „Vom Plastikklub zur Werkself, das war kein leichter Weg.“ Längst lacht keiner mehr. Der neue Fußball ist einfach zu schön. Aber es bleibt ein großes Problem: Noch weiß niemand, wo man in dieser Stadt große Titel feiern soll, denn Leverkusen hat im Gegensatz zu großen Fußball-Städten wie München, Frankfurt und Köln keinen Rathausbalkon.
Es scheint das letzte Rätsel von Leverkusen. Es muss dringend gelöst werden.